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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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entsetzliche Gerüche entgegen. In einem Schweinepferch, der im Gegensatz zu allen anderen ve r riegelt war, waren drei ausgehungerte Sauen übereina n der hergefallen. Eine lag zerfleischt im Dreck, eine zwe i te kauerte blutend in einem Winkel und leckte sich die Wunden. Die dritte aber, Siegerin des Kampfes, thronte triumphierend über dem Kadaver, die Schnauze bis hi n auf zum Hinterkopf mit Blut und Innere i en verschmiert. Aus ihren kleinen glitzernden Augen starrte sie Ailis he r ausfordernd an: Komm herein, wenn du es wagst!
    Im Pferdestall waren die angebundenen Tiere nahe daran, den Verstand zu verlieren. Ailis zerschnitt die L e derriemen einen nach dem anderen mit ihrem Schwert und sah eng an die Wand gepresst zu, wie die hungrigen Tiere hinaus in die Ebene presc h ten.
    Zuletzt wandte sie sich der Kapelle zu.
    Die Türflügel des Haupttors waren geschlossen. Die Kapelle war groß genug, um allen, die hier lebten, Platz zu bieten. Die Menschen dieses abgelegenen Landstrichs mussten sehr gläubig sein; zuletzt aber, dessen war Ailis sicher, hatte auch ihr Gott sie nicht mehr beschützen können. Was immer über sie hereingebrochen war, lag außerhalb seiner Gerichtsbarkeit.
    Nur eine einzige hohe Stufe führte zum Portal der K a pelle. Ein widerlicher Geruch hing in der Luft. Der To r bogen war halbrund und ohne Verzierungen. Darüber hatte man ein geschmiedetes Kreuz in die Mauer eing e lassen. Die Türklinke war so lang wie Ailis’ Unterarm und besaß an ihrem breiten Ende einen enormen Umfang. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte sie, dass es sich dabei um einen eisernen Streitkolben ha n delte, den man seinem ursprünglichen Zweck entfremdet hatte. Die Vo r richtung musste noch aus der Zeit der Kreuzzüge sta m men, als Ritter wie Baans Vorfahren sich als Streiter Go t tes gefühlt hatten.
    Sie legte beide Hände auf die Klinke, um sie herunte r zudrücken, als sie plötzlich etwas hörte. Kein Gesang. Einen Ruf.
    »Ailis!«
    Da, noch einmal!
    Sie nahm die Hände von der Klinke und wandte sich der Wand des Turmes zu. Vier Stockwerke über ihr b e fand sich ein offenes Fenster. Niemand war darin zu s e hen. Trotzdem w usste sie, wer dort oben war. Keinen anderen Ruf hätte sie durch die Schlammpfropfen in i h ren Ohren vernehmen können.
    Wenigstens hatte sie jetzt Gewissheit: Der Schlamm vermochte die Stimme des Echos nicht abzuhalten. Sie entfernte ihn wieder aus ihren Ohren und fühlte sich gleich viel wohler. Wenn es auch nur die Laute der u m herstreifenden Tiere waren, die sie jetzt hörte, so gaben sie ihr doch zumindest das Gefühl, wieder von etwas umgeben zu sein. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr die unnatürliche Stille in ihrem Kopf sie verunsichert hatte.
    Aber unsicher war sie auch so. Verängstigt. Es wäre dumm gewesen, sich irgen d etwas anderes einzureden.
    Zögernd trat sie zurück auf den Platz. Sie musste den Turm ein Stück umrunden, um wieder zum Portal zu kommen. Weit geöffnet erwartete es sie.
    Sie zog das Schwert aus der Scheide. Eine alberne Geste. Gegen das Echo half ke i ne Klinge. Nicht einmal eine ganze Heerschar Bewaffneter hätte etwas ausrichten können. Was also tat sie hier?
    Langsam stieg sie die wenigen Stufen zum Tor hinauf und trat ein. Sie hatte erwartet, dass es auch hier nach i r gendetwas riechen würde. Muffig und abgestanden. Nach Verwesung, so wie draußen auf dem Platz und vor der Kapelle. Aber die Luft hier drinnen war kühl und klar. Es roch nicht, als wäre hier jemand gestorben. A l lerdings sprach nichts dagegen, dass sie die erste sein würde.
    Ihr Blick fiel nach links. Stufen führten hinab in den Keller, in dem sie und ihre Freunde gefangen gewesen waren. War das wirklich erst zehn Tage her?
    Sie wandte sich nach rechts, die Treppe hinauf. Vo r sichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, stieg höher in den Turm. Nach jeder zweiten Stufe hielt sie an und horchte. Von ihrem rasenden Her z schlag abgesehen herrschte völlige Stille.
    Das Fenster, aus dem Fees Stimme erklungen war, lag im oberen Stockwerk. Ein letztes Mal zögerte sie: Sollte sie nicht lieber unten warten, bis Fee zu ihr kam? Hinaus ins Freie, wo es Fluchtwege in alle Richtungen gab?
    Aber vor dem Gesang des Echos gab es keine Flucht. Ebenso gut konnte Ailis sich ihr im Inneren des Turmes stellen, es machte keinen Unterschied.
    Sie erreichte den oberen Treppenabsatz. Ein kurzer Gang führte geradeaus an zwei Türen vorbei zu einer dritten, die sich genau am Ende des Flurs
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