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Vergeltung

Vergeltung

Titel: Vergeltung
Autoren: Julie Hastrup
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DIE NACHT VON SAMSTAG, 25. AUGUST, AUF SONNTAG, 26. AUGUST
    Das Fahrrad schlingerte so
stark, dass es in Annas Bauch kribbelte, als sie den unebenen Waldweg hinunterfuhr.
Sie musste laut lachen, und der Klang ihres Lachens zerriss die Stille des
dunklen Waldes. Es nieselte, und sie stellte sich vor, wie die Baumkronen über
ihr zu einem schützenden Regenschirm zusammenrückten. Sie schloss die Augen und
radelte weiter, während sie ihren keuchenden Atem und das rhythmische Surren
der Reifen vernahm, öffnete den Mund und ließ den Regen auf der Zunge zergehen.
Die milde Nachtluft war feuchtigkeitsgeschwängert, es duftete nach frischer
Erde, und Annas langes feuchtes Haar berührte sanft ihre nackten Schultern.
    In der Diskothek hatte sie ihren
Spaß gehabt. Dieser dunkelhaarige Typ, Alex, war zwar schüchtern, aber süß
gewesen. Sie hatte sich von seinem Aussehen nicht abschrecken lassen, hatte
etwas Weiches hinter der harten Fassade erahnt. Als er sie nach ihrer Handynummer
gefragt hatte, hatte sie sie auf eine Serviette gekritzelt und sie ihm mit
einem koketten Lächeln hingeschoben. Er schien sich zu freuen, doch dann hatte
sie ihm plötzlich die Serviette aus der Hand gerissen. Warum, wusste sie selbst
nicht. Er hatte sie festgehalten, seine Finger bohrten sich in ihren Oberarm,
hart, aber nicht unangenehm, als wollte er sie beschützen. Tränen hatten in
ihrer Kehle geprickelt, und sie hatte sich losgerissen. Er hatte sie nur verwundert
angesehen, mit den Schultern gezuckt und auf dem Absatz kehrtgemacht. Sie hätte
es ihm gerne erklärt, war aber davon ausgegangen, dass er es nicht verstehen
würde. Er war sofort in der dunklen, wogenden Menge aus Menschenkörpern
verschwunden, doch seine Berührung hatte noch lange auf ihrer Haut gebrannt.
    Anna spürte einen harten Stoß, riss
erschrocken die Augen auf und sah gerade noch, dass sie den Schlagbaum gerammt
hatte, der den Fruerwald von dem kleinen Parkplatz direkt am Fjord trennte,
bevor sie das Gleichgewicht verlor, auf dem Weg landete und unter ihrem Fahrrad
begraben wurde. Ihr Knie brannte, sie spürte warmes Blut ihr Bein
hinunterlaufen, und der rechte Ellenbogen tat weh. Sie rieb leicht darüber und
richtete sich schwankend auf.
    Eine dunkle Wolke enthüllte einen bleichen Mond, und sie hatte das
Gefühl, dass sie nicht allein war. Sie hielt den Atem an, blieb still stehen
und lauschte, hörte aber nur ihren eigenen hämmernden Puls und das schwache
Rauschen des Fjords.
    »Ist da jemand?«
    Der Wind trug ihren Ruf davon und einige Sekunden stand sie
unschlüssig da, unsicher, was sie tun sollte. Dann sprach sie sich gut zu.
Natürlich war da niemand. Ihre Phantasie spielte ihr einen Streich. Sie bildete
sich dauernd irgendetwas ein. Das sagte ihr Vater auch oft. In dem Gebüsch am
Weg raschelte es. Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch
kam, erahnte die kompakte Kontur eines Strauchs in der schwarzen Dunkelheit,
konnte aber sonst nichts erkennen. Die Angst auf ihrer Haut fühlte sich an wie
spitze kleine Nadeln. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, umfasste den Lenker
fester und zog das Fahrrad an dem Schlagbaum vorbei. Auf halbem Weg stieß ihr
Fuß gegen etwas Hartes. Sie beugte sich vor, um zu sehen, was es war. Ein
großer Ast versperrte den Weg, und sie streckte den Arm aus, um ihn
fortzuschieben.
    Der Schlag kam überraschend und hart. Anna fiel über den Ast, der
sie an der Stirn erwischte. Etwas Warmes, Klebriges lief ihr über das Gesicht.
Sie versuchte aufzustehen, bekam jedoch einen weiteren Schlag auf den
Hinterkopf, und ihr Gesicht wurde auf den Boden gedrückt. Ihr Mund füllte sich
mit Erde und kleinen Steinen, sie wollte laut schreien, aber der Schrei blieb
ihr im Hals stecken. Sie spürte den Atem eines Fremden dicht neben sich. Und
den Duft von etwas Bekanntem. Ein weiterer harter Schlag. Ein lautes Knirschen.
Jetzt lief ihr das Blut in den Mund. Übelkeit überrollte sie, und langsam wurde
alles grau. Komm, komm, du musst hier weg. Sie wollte
nach dem Ast greifen oder nach einem scharfen Stein, wollte sich verteidigen,
kämpfen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr. Sie spürte im Rücken einen
stechenden Schmerz. Wieder und wieder. Und hörte ein seltsames Röcheln.
Plötzlich kamen ihr Zweifel, ob das Röcheln nicht von ihr kam. Langsam
verstummten alle Laute. Ihr letzter Gedanke, bevor alles schwarz wurde, war:
»Jetzt sterbe ich«, und auf die eine oder andere Weise tröstete sie das. Jetzt
konnte ihr
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