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Loreley

Titel: Loreley
Autoren: Kai Meyer
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eine Menge mehr in diesem za r ten Fräulein, als du dir – «
    »Hör auf!«, fauchte Ailis und erkannte sogleich ihren Fehler.
    »Ah, es gefällt dir nicht, solche Dinge über deine süße Freundin zu hören«, fro h lockte die Kreatur. »Ich kann dir noch mehr erzählen. Viele Dinge. Viele Einzelheiten. Sie hat es nicht nur mit Baan getan, weißt du? Da waren noch andere. Schäfer, draußen auf den Weiden. Und di e ser entsetzliche alte Mann, dieser Prediger. Kein schöner Anblick, wahrlich! Aber Fee hat es dennoch genossen mit ihm. Sein Fleisch war alt und fleckig, aber er war ein Mann, Ailis. Er hatte etwas, das du ihr nie hättest geben können. Lieber hat sie die zitternden Gichtfinger eines Greises an ihre Haut gelassen als dich, Ailis, eine Frau! Das ist es doch, was du bedauerst, oder? Und soll ich dir noch etwas sagen? Sie hat immer gewusst, wie sehr du sie liebst – und auf welche Weise. Und sie hat dich trot z dem verschmäht. Macht dich das traurig? O ja, ich kann es sehen! Gleich wirst du weinen!«
    Das Schwert bebte in Ailis’ Hand, schrie stumm in i h ren Gedanken, endlich vorz u stoßen, aber nicht gegen sie selbst, sondern gegen dieses Wesen dort vor ihr!
    Doch genau darauf wartete das Echo. Es wollte, dass sie diesen Fehler beging, die Schwertspitze von ihrem Kinn fortzog, und wenn es nur für einen Augenblick war. Ganz gleich wie kurz – es würde genügen, um seinerseits zuzustoßen. Nicht mit einer Klinge aus Stahl, sondern mit reinem, messerscharfem Klang, mit der ganzen Macht des Lockgesangs. Wenn es ihm erst gelang, ihr den Willen zu rauben, und sei es nur einige Herzschläge lang, dann war der Kampf entschieden.
    Sie musste fort, irgendwohin, wo sie eine Weile lang sicher vor ihm war. Wo sie nachdenken konnte, nun, da sie wusste, womit sie es zu tun hatte. Bisher hatte sie sich auf Vermutungen, auf ihre Vorstellungskraft verlassen müssen. Jetzt aber kannte sie die Waffe des Echos – sie steckte längst in ihrem Inneren. Ihre Liebe zu Fee hatte sie wie ein Dolch durchbohrt, und alles, was das Echo zu tun hatte, war, die Waffe ein paar Mal in der Wunde he r umzudrehen, bis der Schmerz sie um den Verstand brac h te.
    Die Kapelle!, durchfuhr es sie. Das Echo war ein Verwandter der Wesen von Fa e rie. In die Kapelle würde es ihr nicht folgen können. Dort war sie fürs erste in S i che r heit. Auch vor dem Gesang? Das würde sich zeigen.
    Entschlossen machte sie einen Schritt rückwärts, dann einen zweiten. Die Schwertspitze hielt sie dabei fest u n ter ihr Kinn gerichtet. Bei jeder Bewegung schien sich die Klinge ein wenig tiefer zu bohren, aber Ailis spürte den Schmerz jetzt kaum noch.
    Das Echo sah reglos zu, wie sie rückwärts auf den Gang trat. »Was willst du jetzt tun?«, fragte es. »Glaubst du wirklich, du kannst mir entkommen?«
    »Das bin ich schon einmal«, erwiderte Ailis.
    »Aber du bist doch nicht hergekommen, um einfach davonzulaufen! Sag es ruhig: Du willst einen Kampf!«
    Ailis gab keine Antwort. Rückwärtsgehend wandte sie sich auf dem Gang der Treppe zu, löste sich aus dem Blickfeld des Echos. An den Seidenbahnen, die ihr durch den Türrahmen nachwehten, erkannte sie, dass das Echo sich vorwärts bewegte. Es folgte ihr.
    Ihre rechte Ferse ertastete die obere Stufe. Das Tre p penhaus war dunkel, die Fackeln, die es einst erhellt ha t ten, waren längst heruntergebrannt. Niemand war mehr hier, der sie erneuert hätte. Wenn Ailis versuchte, die Stufen rückwärts hinabzugehen, lief sie Gefahr, in der Finsternis zu stolpern und das Schwert zu verlieren. So entsetzlich der Gedanke war, dem Echo den Rücken z u zukehren, so schien es doch die einzige Möglichkeit zu sein, heil nach unten zu gelangen.
    Noch immer sah sie nur weiße Seide, die durch den Türrahmen flatterte. Blit z schnell fuhr sie herum, das Schwert fest an die Brust gepresst. Wenn sie die Stufen zu hastig herabsprang, würde sie sich mit der Waffe au f spießen. Sie musste langsam g e hen, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzen.
    Sich selbst zu beherrschen und die Angst vor dem Ding in ihrem Rücken zu übe r winden fiel unendlich schwer. Die Vorstellung, das Schwert abzusetzen und die Treppe hinunterzuspringen, war verlockend. Sie würde schneller sein, schneller in Sicherheit, wenn sie einfach loslief. O ja, sie sollte es tun, sollte es wirklich tun …
    Ein sanftes Summen lag in der Luft. Es war das Echo, das ihr solche Gedanken ei n gab!
    Ailis blieb wie angewurzelt stehen, drehte sich um. I h
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