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Lied der Wale

Lied der Wale

Titel: Lied der Wale
Autoren: D Thomas
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hatte, in jener Nacht, als sie beidem sterbenden Wal Wache hielt. Er erzählte ihm, dass er, obwohl sie es ihm verschwieg, sehr wohl wusste, wem er sein neues Schiff zu verdanken hatte. Er erklärte ihm, dass der Entschluss, ihn gehen zu lassen, sicher sehr schwer für sie war, viel schwerer als für ihn, denn er war die Einsamkeit gewohnt. Dann bat er Michael um ihre Hand.
    »... Normalerweise, Michael, müsste ich ihren Vater darum bitten, aber den gibt es nicht mehr, und du bist der wichtigste Mensch in ihrem Leben, also frag ich dich. Ich möchte sie heiraten und bitte dich um Erlaubnis, euer Leben zu teilen, wenn auch nur für wenige Wochen im Jahr. Ich möchte so etwas wie dein Vater werden, Michael. Ich kenne dich kaum, aber du bist ein Teil von ihr, und ob du es willst oder nicht, jetzt auch ein Teil von mir. Ich bitte dich,  auf  sie aufzupassen und, da ich weiß, dass du dich mit dem Internet gut auskennst, mir immer Bescheid zu geben, wenn es ihr  schlecht geht. Sie würde es mir verheimlichen. Ich danke dir – David.
    PS : In deinem Schreibtisch, ganz hinten, findest du eine kleine Schachtel. Darin ist ein Ring. Bitte gib ihn deiner Mutter nur, wenn ich dein Einverständnis habe, sie heiraten zu dürfen.«
    Leah hatte den Brief zurück ins Kuvert gesteckt und den Part mit der Wimperntusche erneut in Angriff nehmen müssen. Sie hatte versucht, sich so weit wieder herzurichten, dass sie einigermaßen vorzeigbar war. Es hatte einiger Anläufe bedurft. Dann war sie in den Wagen gesprungen, hatte den Rückwärtsgang ins Getriebe geknüppelt und schon an der Auffahrt zur Straße fast alle Verkehrsregeln gebrochen. Doch mit einer wohldosierten Mischung aus Hupe, Gas und Chuzpe gelang es ihr, das Hafengelände in fünfzehn Minuten zu erreichen, knapp nach zwölf. Wahrscheinlich hatte die »SeaSpirit II« bereits abgelegt. Sie jagte den Wagen durch die Schluchten zwischen den Lagerhäusern. Sah das Schiff. Noch vertäut. Und Trauben von Menschen davor.
    Die Maschinen tuckerten bereits, und gerade wollten zwei Hafenarbeiter den Steg vom Schiff lösen.
    Leah raste mit quietschenden Reifen um die Kurve und brachte den Wagen neben dem Steg zum Stehen.
    Sie stürzte heraus, ohne die Tür zu schließen, rutschte aus und fiel prompt auf alle viere. Dieser Auftritt würde im Fernsehen sicher noch besser wirken als ihre Tränen.
    »David!«, schrie sie und entdeckte ihn hinter dem Fenster der Brücke. Dann verschwand er aus ihrer Sicht, und für einen kurzen Augenblick befürchtete sie, er wolle sie nicht mehr sehen, doch sogleich tauchte er eine Etage tiefer wieder auf, rannte aufs Deck hinaus und stürzte den Steg herunter auf sie zu. Sie lief ihm entgegen und direkt in seine Arme.
    »Danke«, sagte er leise, während er ihre Augen, ihre Lippen küsste. »Danke, dass du doch gekommen bist.«
    »Ich ...« Sie hatte sich so viele Worte zurechtgelegt, die sie ihm alle noch sagen wollte, Worte der Erklärung, Einsicht und Hoffnung. Doch jetzt war sie zu aufgewühlt, brachte keines davon hervor.
    »Ich dich auch, Leah, mehr, als du ahnst ... Schön, dass du es live sehen kannst und nicht erst im Fernsehen.«
    »Was?«
    Er deutete auf den Bug des Schiffes. Zuerst erkannte Leah nicht, was er meinte, doch dann sprang es ihr förmlich entgegen. Wo einst die weiße Schrift »SeaSpirit II«. am Bug prangte, las sie nun nur noch vier Buchstaben: LEAH .
    Tränen schossen ihr in die Augen, sie küsste ihn und schlang ihre Arme um ihn, als ob sie ihn nie mehr loslassen wollte. Über seine Schulter hinweg entdeckte sie Geoffrey, der neben Kazuki am Kai stand, und spürte seine Traurigkeit, als er sie von ihrem Liebsten Abschied nehmen sah, aber auch die Hoffnung, die er sich immer noch machte.
    »In zehn Wochen«, hörte sie David sagen, »die gehen schnell vorbei.«
    Sie schaute David hinterher, wie er zurück auf sein Schiff stieg, erspähte ihn wieder hinter der Scheibe auf der Brücke neben Joe.
    Die Maschinen nahmen an Lautstärke zu. Der Steg wurde zur Seite gerollt. Die Leinen gelöst. Und die »LEAH« setzte sich in Bewegung.
    Sie blickte dem Schiff unter Tränen hinterher, bis es aus ihrer Sicht verschwunden war. Und zum ersten Mal seit langer, langer Zeit hatte sie das Gefühl, dass alles seine Richtigkeit hatte.

Unser besonderer Dank gilt:
    Michael Kibler für seine umfangreiche Mitarbeit bei der Entstehung,
    Ulrika Rinke & Ingeborg Mues für ihre heroische Lektorentätigkeit,
    unseren besseren, viel besseren Hälften
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