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Liebesnöter

Liebesnöter

Titel: Liebesnöter
Autoren: Gaby Hauptmann
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da, ganz nah an ihr dran. Ihre Gänsehaut sagte ihr, dass er es war: Moritz. Eindeutig älter, aber das spielte keine Rolle. Es waren seine Augen, sein Mund. Und vor allem war es sein Blick, dieser Blick, der immer alles an sich ziehen wollte, der rätselhaft war und zugleich Vertrauen schenkte. Und schon wieder sahen diese Augen sie an und ließen sie einfach nicht los.
    Als Ella zur Ausstellungstheke zurückging, spürte sie, dass er ihr nachschaute. Sie kaufte einen Katalog der Künstlerin. Aufgewühlt ging sie ein letztes Mal zu dem Portrait und fotografierte es mit ihrem Smartphone. Sie würde das Foto nicht anschauen können, das wusste sie schon jetzt. Alleine der Gedanke daran gruselte sie.
    Es kam alles zurück. Vierzehn Jahre waren wie ein Tag. Die Angst, das Ziehen im Bauch, der quälende Gedanke, das Ereignis, das ihre Schulzeit so grauenhaft beendet hatte: der Tod von Inka, ihrer Zwillingsschwester.
    Ella verließ die Galerie und wusste erst mal nicht, wohin. Wo hatte sie nur ihren Wagen geparkt? Als sie endlich hinter dem Lenkrad saß, zitterte sie am ganzen Körper, und es war ihr speiübel. Wo sollte sie hin? Mit wem konnte sie über dieses Bild, die ganze Geschichte sprechen?
    Ihre Eltern waren damals durch die Hölle gegangen, sie konnte diese Wunde mit so einem Verdacht nicht wieder aufreißen. Und ihre beste Freundin Steffi war gerade für einige Wochen in Amerika, die fiel also auch aus. Und Ben? Er kannte den Fall, aber würde er ihr Glauben schenken? Bei einem abstrakten Portrait?
    Ella ließ sich im Autositz zurücksinken und schloss die Augen. Die Bilder, die ihr durch den Kopf gingen, waren zu mächtig. Alles stürmte wieder auf sie ein. Ihre ausgelassene Abifeier am See. Sie hatten das große Bootshaus gemietet, überall hingen bunte Lampions, ein Lagerfeuer brannte, Musik dröhnte, und alle waren ausgelassen, feierten die neu gewonnene Freiheit, das Gefühl, es geschafft zu haben. Der Start ins Leben, keine Lehrer mehr, keine Zwänge mehr, keine Eltern mehr, »school’s out for summer«, so skandierten sie, »school’s out forever«. Die Aufbruchstimmung war gigantisch. Alkohol und Drogen taten ein Übriges, sie wussten kaum, wohin mit ihren Kräften, ihrem Überschwang, ihrer Leidenschaft. Achtundzwanzig junge Männer und junge Frauen machten die Nacht zum Tag.
    Irgendwann zog sich der Erste aus und sprang nackt und mit viel Getöse ins Wasser, die anderen folgten ihm prompt. Das Wasser sah zwar unheimlich dunkel aus, aber es war warm und nicht besonders tief, sie planschten wie die Kinder, spritzten sich gegenseitig an, zogen sich unter Wasser, es war eine große Kinderei. Ella balgte sich mit Tom herum, einem Jungen aus ihrer Klasse, den sie schon immer gern gemocht hatte, und sie war nicht abgeneigt, heute Nacht mehr daraus zu machen. So bemerkte sie das lange Holzboot nicht, das von Moritz ins Wasser geschoben wurde, und sie wusste auch nicht, dass Inka mit ihm hinaus auf den See fuhr. Irgendwie hatte es niemand wirklich mitbekommen, weil alle viel zu sehr miteinander beschäftigt waren und Ella eben vor allem mit Tom. Erst als sie sich wieder um das Lagerfeuer kümmern mussten und Holz und getrocknetes Schilf suchten, fiel ihr auf, dass Inka nicht dabei war. Aber auch da dachte sie sich noch nichts. Das Lagerfeuer loderte auf, sie rückten alle näher zusammen und trockneten ihre nassen Körper. Die lodernden Flammen tauchten ihre nackte Haut in ein weiches, magisches Rot, und während die Flaschen kreisten, sangen und tanzten sie und glaubten, eins mit der Natur zu sein: rein, frei und ganz sie selbst.
    Ella verschwand mit Tom hinter dem Bootshaus, das intensive Streicheln am Lagerfeuer verlangte nach mehr, und da die ersten Vögel zu singen anfingen, war klar, dass der anbrechende Morgen der besonderen Stimmung ein Ende machen würde. Sie hörte den Ruf, obwohl sie Toms Keuchen im Ohr hatte und selbst nichts anderes wollte als die Explosion in ihrem Kopf. Aber sie nahm Tom bei den Schultern. »Hör auf«, sagte sie. »Da stimmt was nicht!«
    Überrascht hielt er inne und sah ihr ins Gesicht.
    »Nicht gut?«
    Sie schüttelte nur den Kopf, dann löste sie sich von ihm. »Sie rufen Inkas Namen!«
    »Dann lass sie doch!« Tom wollte wieder in sie hinein, es auch zu Ende bringen.
    »Nein, da ist was passiert!« Ella schob ihn weg, bückte sich nach ihrem nassen T-Shirt, wickelte es sich um den Bauch und lief los. Am Lagerfeuer standen einige ihrer Freunde und redeten aufgeregt
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