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Liebesnöter

Liebesnöter

Titel: Liebesnöter
Autoren: Gaby Hauptmann
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Flugverbindungen heraussuchen. Mit Ben nach Stockholm, dachte sie, während sie eine Ingwerwurzel in feine Scheiben schnitt und in einen hohen Becher gab. Mit Ben nach Stockholm, das klang ein bisschen wie Urlaub, und selbst wenn der Anlass nicht fröhlich war, freute sie sich auf die Zeit mit ihm. Früher waren sie oft zwischendurch losgefahren, manchmal nur drei Tage, irgendwohin, in eine Stadt, eine Landschaft, egal, ohne Plan und festes Ziel, aber solche Ausflüge waren zuletzt seltener geworden. Mehr Arbeit, mehr Stress und das Bedürfnis, sich in der freien Zeit einfach auszuruhen. Du lieber Himmel, dachte Ella und schaute durch das Küchenfenster auf die dahinziehenden Wolken, wohin sollte das noch führen? Sie waren jung und fühlten sich schon jetzt verbraucht.
    Es wurde Zeit, dass Steffi zurückkam. So, wie sie mit Steffi herumalbern konnte, konnte sie es sonst mit niemandem. Sie kannten sich so gut, konnten über Dinge lachen, die anderen nur ein müdes Lächeln entlockten. Mit Steffi war sie einfach wieder jung und sie selbst.
    Ella goss das heiße Wasser in den Becher und ging wieder an ihren Schreibtisch zurück. Moritz, dachte sie plötzlich, Moritz, wenn du wirklich noch lebst, wie wird deine Mutter diesen Schock verkraften? Kann es sein, dass er geflüchtet ist und seinen Tod nur vorgetäuscht hat? Hatte er es fertiggebracht, seine Eltern so im Unklaren zu lassen?
    Sie betrachtete die Ingwerscheiben, die blässlich in ihrem Becher herumschwammen. Die Farbe erinnerte sie an Wasserleichen, aber sie verbot sich den Gedanken. Was Inka heute wohl machen würde, wenn sie noch lebte? Würde Inka ihre braunen Haare lang tragen wie sie oder vielleicht kurz und blond gefärbt? Und für welchen Beruf hätte sie sich entschieden, oder wäre sie Hausfrau und hätte drei Kinder? Manchmal stand Ella vor dem Spiegel und dachte an diese Nacht zurück, damals, als ihre Freunde nach Inka gerufen hatten, weil sie glaubten, sie, Ella, läge dort tot im Wasser. Was, wenn sie gar nicht Ella war, sondern Inka?
    Dann verdichteten sich die Dinge um sie herum, und sie befürchtete, ihr zweites Ich könnte aus dem Spiegel heraustreten, ganz normal, so wie sie sich früher als Spiegelbild gegenübergestanden hatten. Es brauchte jedes Mal eine Weile, bis sie wieder ganz zu sich fand. Ben waren solche Anwandlungen unheimlich. Er sagte es zwar nicht, aber sie sah es ihm an.
    »Du bist Ella«, sagte er in solchen Momenten. »Nicht Inka und auch nicht zwei. Du bist ganz einfach der eine Teil eines Zwillings. Mehr nicht.«
    Ella nickte, aber beide wussten, dass sie anders empfand. Manchmal fühlte sie wie zwei, und sie war sich da nicht sicher, welche Stimme in ihr überwog. Der eine Teil wollte nach links, der andere nach rechts. Selbst beim Einkaufen hatte sie manchmal Mühe. Inka hatte Salami geliebt, sie Schinken. Manchmal kaufte sie noch heute Salami, nur damit Inka auch etwas hatte. Diese Feinheiten behielt sie allerdings für sich. Ben hätte die Salami sonst nicht angerührt.
    Die Flüge nach Stockholm gingen verdammt früh. Aber eigentlich war es auch geschickt, dann konnten sie den ersten Tag gleich voll und ganz ausnutzen. Vier Tage dürften reichen. Sie durchforstete ihren Terminplan. Ein Wochenende machte keinen Sinn. Sie brauchte offene Geschäfte und Behörden, vielleicht würde sie ja irgendwo etwas nachfragen müssen – auf einer Gemeindeverwaltung nach einem Namen oder einer Adresse suchen oder weitere Galerien abklappern. Ihr Terminplan war eigentlich voll, aber es war kein Notarbesuch dabei. Nur Besichtigungen. Das konnte sie abgeben. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag zurück. Wenn man sich eine Grippe einfing, war man auch plötzlich für eine Woche weg vom Fenster, dachte sie, und dann ging es auch. Man durfte sich selbst und seine Arbeitsleistung nicht zu wichtig nehmen – letztlich war jeder zu ersetzen. Sie stimmte ihrem Gedanken nickend zu und schickte Ben eine entsprechende Mail. Sie wollte so schnell wie möglich los. Heute war Mittwoch. Morgen buchen, dann Freitag, Samstag, Sonntag … Montag. Bei diesem Gedanken schlug ihr Herz plötzlich schneller.
    Da klingelte es.
    Ella schaute auf die Uhr. Viertel vor neun, recht spät für einen Besuch. Unschlüssig stand sie auf. Wer unten an der Haustür war, sah, dass Licht brannte. Trotzdem brauchte sie ja nicht aufzumachen. Ein zaghaftes Klopfen zeigte ihr, dass der Besuch bereits vor der Wohnungstür stand. Es konnte also nur jemand aus dem Haus sein.
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