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Liebesnöter

Liebesnöter

Titel: Liebesnöter
Autoren: Gaby Hauptmann
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Dienstag
    Der dicke Pinselstrich war ihr zu schwer, die Bilder zu düster, die Motive zu freudlos. Es passte irgendwie zu der Welt da draußen, dem Sprühregen vor den hohen Galeriefenstern und überhaupt zu ihrer Stimmung. Ella fragte sich, warum sie sich zu dieser Vernissage hatte überreden lassen. Sie kannte die Künstlerin nicht, sie wollte nichts kaufen, und eigentlich wartete sie nur auf Ben. Und das schon seit einer halben Stunde.
    Ella ließ ihren Blick über die anderen Gäste schweifen. Die üblichen Verdächtigen. Die einen, die ihren erhabenen Kunstverstand schon über die entsprechende Kleidung ausdrückten, die anderen, die wirklich an den Gemälden interessiert waren und weniger an der Marke des Sekts und der Qualität der Canapés. Und schließlich die Hobbymaler, die in Grüppchen vor einem Bild standen und leidenschaftlich diskutierten. Dazu gehörte normalerweise auch Ben. Er suchte immer das Gespräch mit dem Künstler, war brennend an dem Wie und Warum, der Technik und dem Impuls zu einem Werk interessiert. Doch heute war die Künstlerin nicht anwesend, ein schweres Unwetter hatte ihren Flug von Stockholm verhindert.
    Ella überlegte, ob sie Ben darüber informieren sollte – vielleicht wollte er dann ja gar nicht mehr kommen, und sie könnte ihren Aufenthalt hier drastisch abkürzen? Sie war den ganzen Tag von einem Termin zum anderen gehetzt, war hundemüde und sehnte sich nach einem heißen Bad. Vielleicht würde es ihm ja reichen, wenn sie ihm einfach von ihren Eindrücken erzählte? Ella ging die Bilder ab, die sie noch nicht gesehen hatte, und trank dabei ihr Glas aus. Auch hier herrschten Düsternis und der breite Pinselstrich, fast schon wie mit dem Spachtel aufgetragen. Naturmotive, mystische Irrlichter, Wasser und Wälder. Die Bilder waren Ella unheimlich, unbestimmte Erinnerungen kamen hoch, schnell ging sie weiter. Die Gemälde auf der Rückseite der Stellwände hatten dagegen einen völlig anderen Charakter: abstrakter, bunt, farbig, heiter. Mädchen tanzten mit Blumenkränzen im Haar, die Sonne flirrte, man konnte ihr Lachen hören.
    Gute-Laune-Bilder, dachte Ella. So etwas bräuchte sie eigentlich in ihrem Büro als Antidepressivum, wenn ihr mal wieder alles auf die Nerven ging. Sie zog ihr Handy heraus, um Ben anzurufen, und sah, dass er es auch schon versucht hatte. Offensichtlich hatte sie im Stimmengewirr das Läuten überhört. Ben teilte ihr per Mailbox mit, dass es im Büro eine Verzögerung gebe und er leider nicht kommen könne. Typisch Ben. Nie klappte eine Verabredung. Langsam nervte sie das wirklich. Nur ihm zuliebe war sie überhaupt hierhergekommen, und jetzt stand sie alleine da. Ärgerlich stellte sie ihr Sektglas ab. Nur keine schlechte Laune, versuchte sie sich beim Hinausgehen aufzumuntern, und wählte den menschenleersten Weg entlang einer Portraitreihe in Richtung Ausgang. Freu dich auf ein duftendes Bad, auf eine Auszeit, auf den gemütlichen Abend mit allem, was du dir selbst Gutes tun kannst. Sie hatte sich schon fast selbst von ihrer guten Laune überzeugt, da sah sie ihn. Sie sah ihn aus dem Augenwinkel, und eigentlich war es, als sähe er sie. Sie blieb stehen und hatte plötzlich das Gefühl, völlig alleine in dem Raum zu sein. Nur er und sie. Sie traute sich kaum, den Kopf nach ihm zu drehen, aus Angst, etwas zu sehen, was sie nicht sehen wollte. Was sie lieber nicht wissen wollte. Gleichzeitig fühlte sie, dass es dafür schon zu spät war. Sie schloss die Augen und trat auf das Bild zu. Dann zählte sie bis fünf und öffnete die Augen. Es war nicht wirklich er, eher das, was die Malerin in ihm gesehen hat. Große, braune, aufmerksame Augen, eine steile Unmutsfalte an der Nasenwurzel, einen leicht spöttischen Mund. Der Rest ging unter in breiten Pinselstrichen, die die Konturen des Gesichtes nur erahnen ließen. Trotzdem fuhr es Ella durch Mark und Bein. Sie schaute sich um, ob jemand ihr körperliches Erschrecken bemerkt hatte. Aber niemand schien Notiz von ihr zu nehmen. Sie trat einige Schritte zurück, betrachtete nun auch die anderen Portraits. Frauen, Männer, Mädchen – alle litten an diesem schweren Pinselstrich. Und trotzdem sah man immer ein Gesicht, mehr noch, man sah den Menschen dahinter.
    Ella zwang sich zum Weitergehen, um das Bild im Kopf loszuwerden. Dann kehrte sie noch einmal um und versuchte, sein Portrait ganz nüchtern zu betrachten. Aber wieder packte es sie. Egal, wie sehr sie sich davon distanzieren wollte, es war schon
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