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Leute, ich fuehle mich leicht

Titel: Leute, ich fuehle mich leicht
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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»Du hast es gut. Deine Töchter sind so hübsch. Meine sind so hässlich.« Und Mama behauptet dann gerne: »Stimmt doch gar nicht.« Nur um Rita zu trösten. Einmal hat Cotsch das allerdings hautnah mitgekriegt, und ich muss nicht sagen, dass sie auf der Stelle ausgeflippt ist. Sie hat mit dem Fuß aufgestampft und geschrien:
    »Endlich gibst du es zu, dass du Susanna nicht nur für klüger, sondern auch für hübscher hältst als mich! Ich hasse dich!«
    Mich inspiriert ja eher die Kunst. Dafür braucht man sowieso nur die emotionale Intelligenz - die habe ich, meint Mama. Darum neige ich auch zur Selbstzerstörung. Ich laufe immer am Rand des Abgrunds, um intensiv das Leben zu spüren. Mama meint: »Wenn du so weitermachst, bist du bald tot.« So ist das eben, wenn man zu Höherem geboren ist. Ist jedenfalls meine Meinung. Ich meine, ich wäre nicht das erste Genie, das in der Blüte seines Lebens dahinscheidet. Ich sage nur: Mozart. Cotsch sagt nur: »Ich hasse dich.« Was soll ich dazu sagen? Sie sollte sich mal was Neues einfallen lassen. Irgendwas Erbauliches. Ich meine, als wir klein waren, haben wir uns optimal verstanden. Da war alles gut zwischen uns, und wir haben im Sandkasten rumgematscht, bis der Arzt kam. Das ist auch so ein Grund, warum Mama kein Licht mehr am Ende des dunklen Tunnels sieht: dass Cotsch und ich nicht für immer ihre kleinen Mädchen geblieben sind, die in Gummizugröckchen und Puffärmelblüschen im Sand rummachen, um die Häuserecken flitzen oder die Häkelnadel schwingen. Ich meine, wer will das? Da hätte Mama früher reagieren und Cotsch und mich in zu kleine Zwangsjacken quetschen müssen, um uns am Wachsen zu hindern. So wie die Japanerinnen das mit ihren Füßen oder die Ägypter mit ihren Köpfen machen.
    Ich drehe meine Musik voll auf und starre aus dem Fenster, zwischen den Zweigen der Felsenbirne hindurch. Ich denke, dass draußen eigentlich ganz schönes Wetter ist. Ich könnte rausgehen, einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Runter zum Fluss und zwischen den Sträuchern eine Zigarette rauchen, damit mir Mama nicht wieder das Ohr abkaut von wegen: »Kinder, raucht nicht so viel.«
    Oder ich bleibe drinnen, hole mir aus dem Keller etwas von Mamas Ton und forme ein paar Skulpturen. Ich liebe es, Skulpturen zu formen. In meinem Regal stehen schon sehr viele von diesen Figuren. Sie haben dünne Gliedmaßen und weit aufgerissene Münder. Sie alle leiden unter ziemlich starken emotionalen Nöten. Genau wie ich. Unter uns: Manchmal mache ich mir auch ein bisschen Sorgen, dass ich es nicht mehr lange mache. Neulich hat mir Mama einen Artikel aus der Zeitung ausgeschnitten, in dem stand, dass Magersucht tödlich enden kann und dass jedes Jahr eine Handvoll Mädchen in meinem Alter daran verrecken, weil sie nicht mehr aufhören können zu hungern. Wenn ich mir das vor Augen führe, würde ich natürlich am liebsten eine Pizza essen. Aber ich traue mich nicht, weil ich dann wiederum befürchte, dass ich innerlich zerplatzen könnte.
    Leute, ich habe wirklich Angst vor dem Essen, mehr als vor dem Sterben. »Das ist paradox«, sagt Papa manchmal. Und wenn ich darüber nachdenke, könnte ich weinen. Als ich klein war, wusste ich nicht, dass so eine heftige Sache auf mich zukommen würde. Da dachte ich, das Leben besteht nur aus Sunshine. Ich dachte: Lelle, du bist die Größte! Und nun? Unter uns: Ich denke immer noch, dass ich die Größte bin. Aber im Gegensatz zu damals habe ich das Gefühl, dass heute niemand mehr Notiz davon nimmt. Früher waren die Leute verrückt nach mir, weil ich so süß aussah mit den krausen Haaren und der gewölbten Stirn und den großen Augen. Heute muss ich selbst etwas dafür tun, um angebetet zu werden. Und darum werde ich definitiv Künstlerin, so viel ist schon mal klar. Ich muss meine innere Zerrissenheit verarbeiten. Und die Welt soll daran teilhaben. Auch wenn Mama meint, dass ich besser ins Hotelfach gehen sollte. Um eine sichere Basis zu haben. Ich weiß nicht. Manchmal denke ich, Mama will mich beleidigen. Oder sie hat Schiss, dass unsere familiären Missstände an die Öffentlichkeit gelangen. Ich muss sagen, diese Sorge ist nicht ganz unbegründet. Ich plane bereits eine erste Ausstellung mit meinen Skulpturen, drüben in der Grundschule, wo auch der jährliche Weihnachtsbasar stattfindet, bei dem Mama ihre selbst getöpferten Vasen an die Nachbarschaft vertickt. Um bei der Gelegenheit überhaupt etwas vorweisen zu können, sollte
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