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Leute, ich fuehle mich leicht

Titel: Leute, ich fuehle mich leicht
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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hungern zu können, wie ich es kann, muss man innerlich eine Art Genie sein. Das kann nicht jeder, schon gar nicht die senile Alina. Was bildet sich ihre Mutter überhaupt ein? Denkt die, ihre Tochter ist was Besonderes? Da kann ich sie beruhigen. Die ist ja sogar bereit, im Durchschnittsalter von achtundsiebzig Jahren den Löffel abzugeben. Manchmal muss ich mich wirklich schon sehr wundern, wie schräg die Menschen sind. Aber was will man schon erwarten von Leuten, die den ganzen Tag auf dem Sofa dahinvegetieren und sich Volksmusiksendungen reinziehen? Über irgendwas müssen die sich ja schließlich auch Gedanken machen.
    Ich hocke mich neben Mama und sage: »Vergiss es. Manche Leute haben echt keine Ahnung vom Leben.«
    Mama nickt wieder und spuckt ein Stückchen Haut auf meinen Oberschenkel.
    »Igitt! Mama!«
    »Entschuldige. Ich war gerade so in Gedanken.«
    Entsetzt glotze ich auf meine kantigen Knie in der abgewetzten Jeanshose, auf der das winzige Stück Haut liegt. Schnell schnipse ich es mit der Fingerspitze runter und auf den Teppich. Diese Jeans ist mein absolutes Heiligtum. Ohne sie kann ich nicht mehr leben. Letzte Woche habe ich sie mir in diesem Secondhandladen gekauft, in dem es lauter Klamotten gibt, die Generationen vor mir bei Hardcore-Rockkonzerten vollgeschwitzt oder nach der Einnahme von halluzinogenen Drogen beim Abspacen vollgekotzt haben. Als ich neulich damit ankam, hat Mama die erst mal volle Pulle gewaschen, damit ich keine Krankheiten davon kriege. Aber selbst spuckt sie mir ihre abgekaute Daumenhaut darauf. Das nenne ich »ambivalentes Verhalten«!
    Wie auch immer: Zu den Jeans habe ich noch zwei alte Herrenhemden aus grüner Kunstfaser erstanden. Nach dem Waschen sehen die magischerweise wie frisch gebügelt aus. So kann ich Mama einen Teil der Hausarbeit abnehmen. Mama bügelt nämlich sogar Papas Unterhosen. Das finde ich ein bisschen übertrieben. Aber meine Schwester meint: »Mama definiert sich übers Bügeln.« Und Cotsch muss es ja wissen. Mama vertraut ihr so ziemlich alles an, was in ihrem Innersten vor sich geht. Und das ist immer das Gleiche: Papa gibt Mama zu wenig Aufmerksamkeit, Mama macht sich Sorgen, dass ich an einer Herzbeutelentzündung sterbe - und wenn doch nicht, dass ich zumindest sitzen bleibe.
    Ich atme tief ein und sehe hinaus in den Garten, wo die gelben Blättchen der Akazie auf den Rasen segeln. Mama seufzt neben mir, und ich klopfe ihr so ein bisschen auf den Rücken, um ihr Mut zu machen. Ich wünschte, sie würde sich auch mal auf die erfreulichen Seiten des Lebens konzentrieren. Zugegeben, ich weiß nicht genau, welche das sein sollen. Wie gesagt: Cotsch ist ein harter Brocken und ich bin nicht besonders gut in der Schule. Mich interessiert das Zeug, das wir da lernen sollen, einfach nicht. Das macht aber nichts. Schließlich habe ich Lehrer, die vollstes Verständnis dafür haben. Manche von ihnen halten es in der Schule auch nicht aus und verfahren genau wie ich: Sie kommen gar nicht erst zum Unterricht. Man muss sich wirklich mal vorstellen, wie viel Lebenszeit bei diesen tagtäglichen Schulbesuchen draufgeht. Da wird mir ganz schwindelig. Darum bin ich der Meinung, dass man Prioritäten setzen muss. Das tue ich, indem ich, anstatt in die Schule zu latschen, lieber Fitnessübungen vor dem Fernseher mache oder Tonskulpturen forme. Papa meint: »Dieses permanente Fehlen können sich deine Lehrer nur leisten, weil sie verbeamtet sind.« Ist mir egal. Ich bin keine Beamtin - die Schule kotzt mich trotzdem an. Wenn, dann gehe ich nur wegen der anderen Leute aus meinem Jahrgang hin. Zum Beispiel wegen Alina. Wo wir wieder beim heiklen Thema wären. Ihre Mutter spinnt echt.
    Ich sage zu Mama: »Alinas Mutter spinnt echt.«
    Mama nickt weggetreten. Schließlich erhebt sie sich schwerfällig von der Sofalehne, damit sie nicht zu guter Letzt doch noch unseren Hinterteilen zum Opfer fällt. Dann bindet sie sich das karierte Geschirrtuch wieder fest um die Birne und schlurft in die Küche rüber. Ich bleibe sitzen, um meinen Gedanken nachzugehen. Ich muss prüfen, wie ich jetzt, nach diesem bizarren Telefonanruf, zu Alina stehe. Irgendwie zwiespältig, würde ich sagen. Ich möchte mal wissen, was die zu Hause für einen Sermon über mich und mein sogenanntes Essverhalten abgelassen hat. Von wegen: Lelle hungert! Trotzdem ist Alina eine Super-Freundin und in der Pause trödeln wir gemeinsam an den nahe gelegenen See und rauchen im säuselnden Schilf heimlich
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