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Die Pestärztin

Titel: Die Pestärztin
Autoren: Ricarda Jordan
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    D er Regenvorhang tat sich wie eine Wand vor Rachel auf, als sie das Haus der Familie von Metz verließ. Müde und mutlos zog sie die Kapuze ihres wollenen Mantels über den Kopf. Lange würde er sie nicht vor den Fluten schützen, die sich an diesem Herbstabend über das Mainzer Judenviertel ergossen. Rachel machte den ersten Schritt in die Nässe und Dunkelheit und dachte sehnsüchtig an das warme, vom offenen Feuer erleuchtete Zimmer der Wöchnerin, das sie soeben verlassen hatte. Doch ein ruhiger, trockener Abend in einem der ersten Bürgerhäuser der Stadt sollte ihr heute nicht vergönnt sein. Gleich nachdem sie den neugeborenen Ezekiel gebadet und in seine Wiege gebettet hatte, war ein verhuschtes und völlig durchnässtes Küchenmädchen im Hause Metz erschienen.
    »Die Hebamme, ist sie noch hier? Es ist dringend, meine Herrin liegt in den Wehen! Und wir haben große Angst, dass sie stirbt, der Herr und die Köchin. Obwohl die Maurin sagt, sie stirbt nicht, aber die meint ja immer, alles zu wissen ...« Das Mädchen sprudelte die Worte nur so hervor und vermochte zwischendurch kaum Luft zu holen.
    »Nun mal langsam.« Judith, die Amme, reichte der Kleinen ein Tuch, sodass sie sich ein wenig abtrocknen konnte. Das Mädchen musste völlig kopflos und ohne Regenschutz aus dem Haus gestürmt sein. Seine Haube hing schlaff und traurig wie ein nasser Vogel auf seinem krausen braunen Haar. »So schnell stirbt man nicht. Erzähl uns jetzt ganz ruhig, was geschehen ist und wer dich überhaupt schickt.«
    Dabei wusste Rachel es längst. Schon als die Kleine die »Maurin« erwähnt hatte, war ihr klar gewesen, dass es Sarah von Speyer sein musste, die in den Wehen lag. Schließlich hatte nur eine einzige jüdische Familie in Mainz eine arabische Dienerin: Benjamin ben Juda von Speyer, ein Fernhandelskaufmann, hatte die maurische Sklavin vor einigen Jahren im spanischen Toledo gekauft - eine Transaktion, der ein größerer Skandal in der Bischofsstadt vorausgegangen war. Rachel wusste nicht genau, worum es ging, aber die Maurin, Al Shifa mit Namen, war offenbar knapp dem Scheiterhaufen entgangen. Seitdem diente sie im Hause der Speyers. Sie hatte sich Rachels größte Hochachtung erworben, indem sie Sarah bei deren letzter Entbindung äußerst kundig beigestanden hatte. Rachel selbst war damals bei einer anderen Wöchnerin aufgehalten worden und kam gerade noch zurecht, um Al Shifa bei der Arbeit zu beobachten. Während die anderen Frauen des Haushalts hilflos um das erstickende Kind herumstanden, hatte die Maurin seinen Hals kundig vom Schleim befreit, ihm Luft in die Lungen geblasen und es schließlich zum Atmen gebracht.
    Rachel hatte sich seitdem oft gefragt, ob das auch mit den Mitteln möglich gewesen wäre, die sie selbst anwandte. Auf jeden Fall traute sie Al Shifas Urteil vorbehaltlos. Ihre Einschätzung von Sarah Speyers jetzigem Zustand war zweifellos richtig. Doch auch wenn die Speyerin sich nicht in Lebensgefahr befand - für Rachel bedeutete die Nachricht weitere Stunden harter Arbeit. Sie würde Sarah selbstverständlich beistehen und deshalb ihr eigenes Bett in dieser Nacht kaum zu sehen bekommen. Und wenn es weiter so regnete, würde sie obendrein bis auf die Haut durchnässt sein, ehe sie bei den Speyers ankam.
    Rachel seufzte tief, als sie sich durch Kälte und Nässe kämpfte. Nach kurzer Überlegung wählte sie den kürzesten, wenn auch gefährlicheren Weg zum Stadthaus der Speyers in der Schulgasse. Bei Nacht bevorzugte sie größere und belebtere Straßen, denn sie fürchtete die verschlungenen Gassen im Viertel um die Synagoge. Zwischen den kleinen Geschäften und Wohnhäusern, in denen sowohl jüdische Familien als auch ein paar ärmere christliche Bürger lebten, befanden sich zwei berüchtigte Schenken. Sie zogen oft übelsten Abschaum an. Wahrscheinlich hätten die Stadtbüttel diese Spelunken schärfer überwacht, hätten sie sich nicht gerade im Judenviertel angesiedelt. Die Sicherheit der jüdischen Bürger kümmerte die Stadtwache allerdings kaum. Selbst schuld, wenn ein Mann mit gefüllter Börse oder gar eine schutzlose Frau sich zur Unzeit im Umkreis des »Blauen Bären« oder des »Güldenen Rads« aufhielt!
    Rachel, die ihr Beruf zwangsläufig auch nachts auf die Straßen zwang, fragte sich zum wiederholten Mal, warum Mainz nicht über ein abgeschlossenes Judenviertel verfügte, wie die meisten anderen Städte. Manchmal wünschte sie sich schützende Mauern um sich - obwohl sie
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