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Hexentage

Hexentage

Titel: Hexentage
Autoren: M Wilcke
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    |5| Kapitel 1
    Der hübsche blonde Junge mit den verweinten Augen mochte nicht älter als drei oder vier Jahre sein. Seine Mutter hatte ihn in die Apotheke gebracht, weil er seit Stunden ununterbrochen geweint und über stechende Schmerzen in seinem Bauch geklagt hatte. Anna, die Frau des Apothekers, tastete vorsichtig seinen Leib ab. Stets, wenn ihre Finger in die Nähe seines Magens drückten, verzerrte das Kind sein Gesicht und stieß wimmernde Klagelaute aus, die an das Jaulen einer Katze erinnerten.
    Anna strich dem Jungen tröstend über das Haar und wandte sich zu seiner Mutter um. Wenngleich diese vor allem um ihren Sohn besorgt war, wanderten ihre Blicke dennoch neugierig über das Inventar der Offizin, der Werkstatt dieser Apotheke, die auch als Laboratorium genutzt wurde. Vor allem die zahlreichen mit farbigen Wappen und Etiketten geschmückten Gefäße aus Ton, Glas oder Metall, die säuberlich in den Regalen und Schränken aufgereiht waren, zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. In diesen Töpfen befanden sich Arzneien und Heilmittel, die aus pulverisierten Früchten, Rinden und Wurzeln gewonnen wurden. Auch Minerale wie Arsenik, Schwefel und Quecksilber fanden hier ihren Platz.
    Die Nasenflügel der Mutter bewegten sich unmerklich und erschnupperten wohl die ungewohnten Gerüche von Süßholz, Kampfer, Baldrian und all dem Unbekannten mit heilbringender Wirkung. Der mannshohe Bronzemörser mit seiner Stoß- und Stampfeinrichtung sowie die beiden brodelnden und zischenden |6| Destillationsapparaturen trugen zusammen mit den eigenwilligen Düften dazu bei, dieser Umgebung eine geheimnisvolle Atmosphäre zu verleihen.
    »So sprecht doch, was ist mit ihm?« flehte die Mutter, die ihre Aufmerksamkeit nun wieder ganz auf ihren Sohn lenkte.
    Anna bat mit einem Fingerzeig um Geduld, klappte einen abgewetzten Ledereinband auf und blätterte die Seiten durch, bis sie auf die Abbildung stieß, nach der sie gesucht hatte. Sie drehte die Zeichnung der Pflanze in Richtung des Jungen, so daß er sie sehen konnte.
    »Kennst du diese Pflanze?« fragte Anna.
    Der Junge starrte einen Moment lang grübelnd auf die Zeichnung und nickte verhalten.
    »Hast du davon gegessen?«
    Wieder ein Nicken.
    Annas Vermutung wurde bestätigt. Wie sie es geahnt hatte, wurde das Kind von einer Vergiftung geplagt. Gewiß unangenehm für den Jungen, aber es gab weitaus schlimmere Krankheiten, die ähnliche Symptome aufwiesen. Oft genug kam es vor, daß Anna bei Menschen, die über schier unerträgliche Schmerzen an der rechten Seite klagten, eine Verhärtung ertastete, die darauf hinwies, daß sich an dieser Stelle das Gedärm entzündet hatte. In einem solchen Fall blieb ihr nichts weiter übrig, als diese Männer und Frauen an einen Chirurgen weiterzuempfehlen, wohlwissend, daß ein Patient diese Krankheit nur selten überlebte.
    »Was fehlt ihm?« verlangte die verzweifelte Mutter zu wissen.
    »Euer Sohn hat vom Ackersenf gegessen. Dieses Kraut schwächt den Körper eines Menschen und verursacht Schmerzen in seinem Magen.«
    »Wird er sterben?«
    Anna schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Es war richtig, daß Ihr Euch sofort an mich gewandt habt.« Sie musterte den Jungen und sorgte sich trotz ihrer aufmunternden Worte |7| um ihn. Einen gesunden und kräftigen Menschen konnte der Ackersenf kaum schädigen, doch dieses Kind war mager und geschwächt, seine Arme und Beine waren nicht viel dicker als die Äste eines jungen Baumes. Sie erinnerte sich daran, daß der Name der Mutter Mareke Wessels war und daß sie zu den ärmsten Bürgern der Stadt zählte. Ihr Ehemann, der Scherenschleifer Rudolf, war vor einem halben Jahr auf dem Weg in die benachbarte Ortschaft Bramsche von Wegelagerern überfallen und erschlagen worden. Mareke Wessels und ihr Sohn lebten seither in einer armseligen Behausung und ernährten sich von den Erzeugnissen ihres kargen Gartens sowie den Almosen, die sie erbetteln konnten. Wahrscheinlich gab es an vielen Tagen nicht einmal ein Stück Brot für sie, um ihren Hunger zu stillen. Wen mochte es da verwundern, daß dieses Kind über die Äcker streifte und sich von Unkraut ernährte?
    »Ich werde eine Medizin aus Balsamkraut zubereiten, die Eurem Sohn das Gift aus dem Körper treibt und ihn kräftigt.«
    Anna wollte sich dem Arzneischrank zuwenden, doch Mareke Wessels hielt sie zurück, indem sie eine Hand auf ihren Arm legte. »Bitte wartet, Frau Ameldung.« Ihr ausgezehrtes Gesicht, das die vielleicht
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