Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexentage

Hexentage

Titel: Hexentage
Autoren: M Wilcke
Vom Netzwerk:
dreißigjährige Frau älter aussehen ließ als Anna, die bereits die vierzig überschritten hatte, war von Resignation gezeichnet. »Ihr wißt, daß ich Eure Dienste nicht bezahlen kann.«
    Anna starrte sie verwundert an. Traute diese Frau ihr tatsächlich zu, daß sie ihrem Kind die Medizin, die nur wenige Groschen wert war, verweigern würde? Im nächsten Moment mußte sie sich eingestehen, daß diese Reaktion keineswegs ungewöhnlich war. Es gab viele, zu viele Ärzte und Kurpfuscher in der Stadt, denen das Honorar heiliger war als das Wohl der Patienten.
    »Laßt das Eure geringste Sorge sein«, raunte Anna und machte sich daran, die Arznei herzustellen. Sie zerstieß Balsam, Raute und Betonienkraut in einem kleinen Mörser, drückte den Saft |8| aus und vermischte ihn mit der doppelten Menge eines Abführmittels. Diese Medizin füllte sie in ein Glasfläschchen, verkorkte es und drückte es der Mutter in die Hand.
    »Sorgt dafür, daß Euer Sohn dies an einem warmen Ort trinkt. Entweder wird er dann das Gift erbrechen, oder es wird ihm durch das Hinterteil hindurchgehen.« Anna zögerte, dann griff sie in die Tasche ihrer Schürze und förderte eine schimmernde Kupfermünze zutage. Für sie war es kein großes Opfer, doch dieser Frau und ihrem Sohn konnte ihre Mildtätigkeit für einige Tage das Leben erleichtern. »Nehmt es«, sagte sie und schob Mareke Wessels die Münze zu. »Kauft Eurem Sohn davon gute Milch und vielleicht auch Brot und Käse, damit er etwas Nahrhaftes zu Essen bekommt und schnell wieder Kraft schöpft.«
    Mareke Wessels preßte das Fläschchen und die Münze an ihren Busen und schenkte Anna ein dankbares Lächeln.
    »Ihr seid ein guter Mensch, Frau Ameldung. Das werde ich Euch nie vergessen. Wenn Ihr es wünscht, mache ich mich in Eurem Haushalt nützlich. Ich könnte Holz für Euch sammeln, Euch bei der Wäsche behilflich sein oder Euren Garten pflegen.«
    »Pflegt zunächst Euer Kind«, erwiderte Anna. »Es braucht Eure Hilfe dringender als ich.«
    »Ich stehe tief in Eurer Schuld. Ihr seid fürwahr ein barmherziger Engel. Den bösen Gerüchten, die über Euch verbreitet werden, habe ich ohnehin niemals Glauben geschenkt.«
    Anna quittierte diese letzte Bemerkung mit einem wohlwollenden Nicken. Natürlich wußte sie um diese Gerüchte. Manchmal wunderte es sie, daß überhaupt noch so viele Menschen zu ihr kamen, um ihre Hilfe zu erbitten.
    »Da ist noch etwas, was ich Eurem Sohn mit auf den Weg geben möchte«, sagte Anna und lief rasch in den Hinterhof, wo sie neben dem Kräutergarten auch ein Blumenbeet angelegt hatte. Sie pflückte die Blüte einer weißen Lilie und reichte sie dem Jungen, der die Blume zweifelnd betrachtete.
    |9| »Es wird sicher noch ein paar Tage in deinem Bauch kneifen, aber diese Blüte wird die Schmerzen in sich aufnehmen«, erklärte ihm Anna. »Du kannst es beobachten. Sie welkt im gleichen Maße dahin, wie du erblühen wirst.«
    Es war ein durchschaubarer Trick, da die Blüte ohnehin vertrocknen würde, aber der Junge nahm die Lilie, betrachtete sie interessiert, und Anna war überzeugt, daß diese kleine Geschichte ihre Wirkung zeigen würde – so wie sie schon viele andere Kinder in seinem Alter über den Schmerz hinweggetröstet hatte.
    Mareke Wessels hob ihren Sohn auf dem Arm. Er klammerte sich um ihren Hals und weinte sich weiter an ihrer Schulter aus. Anna begleitete sie aus der Offizin in den der Straße zugewandten Verkaufsraum, der von dem breiten Rezepturtisch dominiert wurde, an dessen kunstgeschmiedeten Aufsätzen die kleinen Handwaagen hingen, die der Apotheker zur Rezeptur benutzte. Ihr Ehemann Heinrich Ameldung stand gebeugt über einem Lesepult, blätterte im Antidotarium und warf über die Augengläser hinweg seiner Frau wenig freundliche Blicke zu.
    »Gott möge Euch schützen«, sagte Mareke Wessels und drückte zum Abschied Annas Hand.
    »Euch ebenso«, erwiderte Anna und schaute Mutter und Sohn nach, wie sie ihren Heimweg über den nur wenig belebten Marktplatz der Stadt Osnabrück antraten, der von der in der Blütezeit des gotischen Stils erbauten Marienkirche sowie dem prächtigen Rathaus eingerahmt wurde. Vor wenigen Jahren noch hatten sich zahlreiche Händler und Gewerbetreibende auf diesem Platz getummelt, doch nachdem der Krieg eine große Anzahl unberechenbarer Söldner in die Stadt gebracht hatte, hatte sich das Handwerk in die sicheren heimischen Werkstätten zurückgezogen und von dort aus den Verkauf betrieben. Selbst an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher

von