Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Leute, ich fuehle mich leicht

Titel: Leute, ich fuehle mich leicht
Autoren: Alexa Hennig von Lange
Vom Netzwerk:
ich mich einigermaßen wieder gesammelt hatte, musste ich mich von Doktor Schaffrat stundenlang abhorchen lassen. Dabei hat er immer wieder die Augen geschlossen und gemurmelt:
    »Und jetzt noch einmal ganz tief einatmen, Elisabeth.«
    Unter uns: Seitdem bin ich traumatisiert. Ich vermute, unser guter Doktor Schaffrat will was von mir. Ständig hat er mir seine Hand auf den Rücken gelegt oder an meinen Schultern herumgebogen. Ich würde sogar sagen: Herr Doktor Schaffrat hat die Situation gnadenlos ausgenutzt - ohne dass ich ihm je etwas nachweisen könnte. Er hätte immer die Möglichkeit, sich herauszureden. So nach dem Motto: »Ich wollte lediglich Elisabeths Herz abhorchen und prüfen, ob sie Wasser in den Lungen hat.«
    Dass sich mein Herz allerdings direkt auf Brusthöhe befindet, wird ihn dabei kaum gestört haben. Machen wir uns nichts vor. Meine zwei Jahre ältere Schwester Cotsch meint auch: »Alle Männer wollen bumsen.« Und sie muss es ja wissen. Die hatte schon mit jedem was. Selbst mit unserem vierzigjährigen Nachbarn Helmuth, der deswegen die dritte Scheidung am Laufen hat. Seit der Geschichte zwischen ihm und Cotsch traut sich Mama kaum noch vor die Tür. Sie meint, meine Schwester hätte Schande über uns gebracht und alle Nachbarn würden sie schief angucken. Und auch Doktor Schaffrat wollte plötzlich wissen, wie es meiner Schwester geht. Weil ich nicht geantwortet habe, hat er schnell wieder zum eigentlichen Thema zurückgefunden und scheinheilig gefragt:
    »Elisabeth, warum isst du denn nicht mal ein bisschen mehr?«
    Ich habe auf diesem Patientenstuhl vor seinem Schreibtisch gehockt und mit den Schultern gezuckt. Ich fand seine Fragen so was von bescheuert. Wenn ich die Antwort wüsste, würde ich vermutlich nicht hungern. Und weil ich anschließend nur noch gespenstisch in der Gegend rumgeglotzt habe, hat er total nervös rumgenickt, die Hände auf meiner rosafarbenen Patientenkarteikarte gefaltet und gemeint, dass Mama mir aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die Speisen anbietet, auf die ich Appetit habe. Doktor Schaffrat ist ein echter Pragmatiker, und darum habe ich seine Diagnose direkt und ungefiltert an Mama weitergegeben, um sie auf den neuesten Erkenntnisstand zu bringen. Daraufhin hat sie allerdings erst mal einen astreinen Anfall von Schuldgefühlen gekriegt. Vollkommen entkräftet hat sie sich auf meiner Bettkante niedergelassen und traurig festgestellt: »Ich meine es doch nur gut mit euch. Seit ihr auf der Welt seid, meine ich es nur gut mit euch.«
    Ich habe sie getröstet: »Ich weiß.«
    Dabei habe ich ihr über den Rücken gestreichelt. Das entspannt. Seitdem fragt sie nun ständig, ob ich ihr beim Essenkochen helfe. So als würde das was bringen. Gerade lächelt Mama auch wieder auf mich herunter, wie ich vollkommen bewegungslos auf meiner Matratze liege, und will wissen: »Und? Hilfst du mir beim Essenkochen?«
    »Meinetwegen.«
    Doch bevor ich aufstehen kann, setzt sie sich schon zu mir auf die Bettkante und streicht mir die Haare aus der Stirn, als wäre das hier endlich die lang erwartete Sterbeszene. Sie greift nach meiner kalten Hand und fragt noch mal: »Geht es dir nicht gut?«
    In ihren feuchten Augen lese ich Trauer, und ich wünschte, meine Mutter hätte mal mehr Freude am Leben. Ständig macht sie sich diese dämlichen Sorgen und denkt, dass alles unrettbar verloren ist. Ist es aber gar nicht - außer der Sache mit Cotsch und unserem Nachbarn Helmuth. Der hat ja leider wirklich geglaubt, mit meiner durchgeknallten Schwester ein neues Leben beginnen zu können. Ich meine, Cotsch ist siebzehn! Was für ein Interesse sollte sie bitte schön haben, mit diesem alten Knacker ihre Zukunft zu fristen? Diesen Fakt hätte sich Helmuth selbst mal vor Augen führen müssen, bevor er seine Frau eiskalt vor die Tür setzt. Das kann echt nicht Mamas Problem sein. Sie sollte sich einfach mal einen neuen Lippenstift oder so was leisten. Mit ein paar Frühlingsfarben das Gesicht aufmöbeln, das hat schon vielen geholfen.
    Ich lächle und sage: »Was soll denn sein?«
    »Vielleicht eine angehende Herzbeutelentzündung.«
    »Quatsch.«
    »Das ist überhaupt kein Quatsch! Das kann passieren, wenn man so wenig isst wie du.«
    »Ich weiß.«
    Die Herzbeutelentzündung ist wirklich Mamas Lieblingsthema. Ich glaube, für sie wäre es das Größte, so eine Art Laser-Augen zu besitzen, mit denen sie mich jederzeit durchleuchten kann, um festzustellen, wie es um mein Herz und die angehende
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher