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Mitternachtsstimmen

Mitternachtsstimmen

Titel: Mitternachtsstimmen
Autoren: John Saul
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Vorwort
    Es passiert nichts.
Es beobachtet mich niemand.
Es folgt mir niemand.
Diese Sätze waren zu seinem Mantra geworden, das er im
Stillen immer wieder vor sich hin betete, als könnte er sie
durch die ständige Wiederholung wahr werden lassen.
    Nur war die Sache die, dass er nicht restlos davon überzeugt
war, dass sie der Wahrheit entsprachen. Wenn tatsächlich
etwas vor sich ging, so hatte er keine Ahnung, was es sein
könnte, oder warum es geschah. Gut, er war Anwalt, und
angeblich wurden Anwälte nicht sonderlich geliebt, aber das
war meistens nur scherzhaft gemeint. Abgesehen davon
beschäftigte er sich ausschließlich mit Miet- und Eigentumsrecht, und seine Tätigkeit beschränkte sich auf so harmlose
Dinge wie das Ausarbeiten und Absegnen von Miet- und
Pachtverträgen. Und soweit er wusste, war bisher keiner seiner
Klienten unzufrieden mit seiner Arbeit gewesen, geschweige
denn hätte ihn gehasst.
    Noch hatte er jemals jemanden dabei ertappt, dass er ihn
beobachtete. Zumindest war ihm niemand aufgefallen, der ihm
mehr als das übliche Maß an Aufmerksamkeit entgegen
gebracht hätte. Wie im Moment zum Beispiel, während er
durch den Central Park joggte. Er beobachtete die anderen
Jogger, und sie beobachteten ihn. Nun, beobachten konnte man
das eigentlich gar nicht nennen – es war eher ein Augen-offenhalten, um zu vermeiden, dass man Mit-Jogger über den
Haufen rannte, oder von einem Radfahrer oder Skater oder
sonst einem Geschwindigkeitsfanatiker, der blind durch die
Gegend raste, überfahren wurde. Nein, es war lediglich so ein
Gefühl, das ihn von Zeit zu Zeit überfiel. Nicht immer.
    Nur manchmal.
Mitunter auf dem Gehweg.
Meistens im Park.
Was wirklich idiotisch war, wenn er genau darüber
    nachdachte. Schließlich war »Leute gucken« mit ein Grund,
warum Menschen in den Park gingen, oder nicht? Die Hälfte
der Bänke wurde von Mitmenschen besetzt, die scheinbar
nichts Besseres zu tun hatten, als Tauben oder Eichhörnchen zu
füttern und nebenbei zuzusehen, was die anderen Leute so
machten. Vor einigen Wochen hatte ihn sein kleiner Sohn
gefragt, wer diese Menschen seien.
    »Wen meinst du?«, hatte er erwidert und nicht so recht
gewusst, wovon der Junge sprach.
»Diese Leute auf den Parkbänken«, hatte der Zehnjährige
erklärt. »Die uns immer bespitzeln.«
Seine Schwester, zwei Jahre älter als er, hatte genervt die
Augen verdreht. »Die bespitzeln uns doch nicht. Sie füttern nur
die Eichhörnchen.«
Bis zu jenem Tag hatte er nie ernsthaft über diese Leute
nachgedacht; sie eigentlich gar nicht richtig wahrgenommen.
Doch nun konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass
sein Sohn gar nicht so Unrecht hatte. Es war, als beobachtete
tatsächlich immer irgendjemand, was er und die Kinder so
machten.
Ein alter Mann in einem vorsintflutlichen Anzug.
Eine alte Frau, die immer Hut und Handschuhe trug.
Ein Kindermädchen, das ihre Schützlinge für einen kurzen
Moment aus den Augen ließ.
Die ganz normalen Parkbesucher eben. Manchmal lächelten
oder nickten sie ihm zu, aber sie lächelten oder nickten auch
allen anderen zu, die ihren Weg kreuzten und ihnen für den
Bruchteil einer Sekunde ihre Aufmerksamkeit schenkten.
Völlig harmlose Menschen, die ein paar Stunden im Park auf
einer Bank saßen und mit ansehen wollten, was sich im Leben
so abspielte. Dahinter steckte mit Sicherheit keine persönliche
Absicht.
Aber irgendwie schienen sie allgegenwärtig zu sein. Er hatte
versucht sich einzureden, dass es ihm nur deshalb so vorkam,
weil er sich dieser Menschen neuerdings bewusst geworden
war. Davor waren sie ihm gar nicht aufgefallen, doch seit sein
Sohn ihn nach diesen Leuten gefragt hatte, musste er ständig
über sie nachdenken.
Innerhalb einer Woche hatte sich dieses Phänomen über den
Park hinaus ausgeweitet. Jetzt sah er diese Menschen überall.
Wenn er mit seinem Sohn zum Friseur ging oder mit der
ganzen Familie zum Abendessen in ein Restaurant.
»Das bildest du dir nur ein«, hatte ihm seine Frau erst vor ein
paar Tagen erklärt. »Die alte Dame saß allein am Tisch.
Natürlich schaut sie sich da um, wer sonst noch im Restaurant
ist. Machst du das nicht, wenn du allein isst?«
Sie hatte vollkommen Recht, und das wusste er auch, aber
genützt hatte es nichts. Im Gegenteil, es war mit jedem Tag
schlimmer geworden, bis er an den Punkt gelangte, wo er, ganz
gleich, was er tat oder wo er sich aufhielt, ständig fremde
Blicke auf sich
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