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Leute, ich fuehle mich leicht

Titel: Leute, ich fuehle mich leicht
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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zittern. Aber ich will nicht nur über Negatives berichten. Ich meine, das hier ist meine Familie. Ich gehöre hierher und das ist gut so. Ich glaube, je stärker man in der Kindheit traumatisiert wurde, desto besser ist das für das spätere Künstlerdasein. Nur dem, dem es in Kindertagen richtig mies ging, gelingt am Ende der ganz große Wurf. Ist jedenfalls meine Meinung. Der Witz an der Geschichte ist nur, dass Mamas Lebensinhalt darin besteht, uns Töchter vor jeglichem Trauma schützen zu wollen. Aber wir stecken schon mittendrin.
    Ich richte mich mit dem Tonklumpen in der Hand auf und meine nackten Füße sind blau angelaufen - das sehe ich im Schein der Kellerlampe. Das ist nichts Neues. Die sind immer blau angelaufen, genau wie meine Hände. Mir ist kalt, und Mama sagt ständig: »Du musst mehr essen.« Ich bin das Mädchen, das seit zwei Jahren nichts mehr isst. Davor habe ich sehr viel gegessen. Ich habe gar nicht gemerkt, wie ich immer dicker wurde. Bis Cotsch mich vorvorletzte Ostern freundlicherweise darauf hingewiesen hat. Als ich mir gerade den letzten Schoko-Osterhasen reinzwängen wollte, meinte sie plötzlich: »Wenn du je einen Freund haben willst, solltest du schleunigst abnehmen.« Mit dem Resultat ist sie - wie wir wissen - allerdings auch nicht zufrieden.
    Ich schalte das Licht aus, ziehe die Kellertür ordnungsgemäß hinter mir zu und gehe wieder hoch in mein Zimmer. Da stelle ich mich ans Fenster. Auf der Fensterbank aus Stein töpfere ich meine Skulpturen. Die Farbtöpfchen und Drahtschlaufen stehen bereit. Ich binde mir meine dunkelblaue Schürze um, die mir Papa vermacht hat, und weiß genau, wie es geht. Draußen vor dem gekippten Fenster zwitschern die Amseln, jagen durch das dichte Geäst der Felsenbirne, und manchmal macht es ein leise brechendes Geräusch, als würden sie sich mit ihren stumpfschwarzen Flügeln in den trockenen Ästen verfangen.
    Gerade als ich voll dabei bin, die Skulptur meines Lebens zu formen - ein liegender Körper mit verdrehtem Kopf -, sehe ich hinter den Zweigen der Felsenbirne Helmuth in seinem weißen Tennisdress herumlungern. Ich registriere: Am Hinterkopf wird sein Haar schon relativ licht. Ich muss mich also korrigieren: Wahrscheinlich ist er schon Mitte vierzig. Dafür hat er ziemlich sportliche Arme, weil er Tennistrainer ist. Hinter seinem breiten Rücken hat er einen voluminösen Blumenstrauß in durchsichtiger Knisterfolie dabei. Er scheint etwas vorzuhaben. Jedenfalls wirkt er irgendwie nervös. Er schleicht vor unserem Haus auf und ab und vielleicht sollte ich einfach ans Fenster klopfen und ihm zuwinken. Doch gerade als ich mich entschließe, ihm ein Zeichen zu geben, hechtet er plötzlich auf unseren Vorgarten zu, kämpft sich in die dornigen Rosenbüsche, die vor Cotschs Fenster wuchern, und ist somit aus meinem Blickfeld entschwunden. Um nichts zu verpassen, reiße ich mir die Stöpsel aus den Ohren und drehe meine Musik runter.
    »Helmuth! Verpiss dich!«
    Der Schrei kam eindeutig von meiner Schwester. Helmuth strauchelt aus den Rosen zurück auf den Weg, er sieht relativ zerfetzt aus. Den restlichen Blumenstrauß hält er sich wie einen Schutzschild vor die Brust. So steht er da, mit weit aufgerissenen Augen.
    Im nächsten Moment kommt Cotsch aus dem Haus gestürmt, direkt auf ihren Verflossenen zu. Sie brüllt: »Bist du zu beschränkt? Es ist aus, du Penner!«
    Und schon reißt sie ihm den Blumenstrauß aus den Händen, wirft ihn auf den Weg und springt, wie von der Tarantel gestochen, darauf herum. Ich würde sagen, die Geste ist eindeutig.
    Meine Schwester will schon wieder zurück ins Haus abdampfen, als Helmuth sie entschlossen am Handgelenk packt und - ganz gegen seine Natur - brüllt: »Ich habe meine Frau für dich verlassen!«
    Und meine Schwester kreischt: »Selbst schuld!«
    Sie reißt sich los und Helmuth bleibt wie ein trauriger Clown mit hängenden Schultern stehen. Jetzt bietet es sich an, ihm aufmunternd zuzulächeln. Das ist meine Spezialität. Ich klopfe also mit meiner Tonhand an die Scheibe und winke zum Zeichen, damit sich Helmuth nicht ganz verlassen fühlt. Ich kenne meine Schwester gut genug, um zu wissen, dass Helmuth ihr Opfer ist. Er hebt müde den dicken Tennisarm und zwingt seine Mundwinkel nach oben. Ich vermute, er hat mich gern. Gerade als Cotsch die Haustür zugeschmissen hat, höre ich Mama im Flur nach mir rufen.
    »Lelle?«
    Mit ihrer hellen Stimme. Die bringt sie immer zum Einsatz, wenn sie in
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