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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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Hindernisparcours aus Passagieren und Gepäck schlängeln.
    Sie begann zu laufen, wich kleinen Kindern und Koffern aus, und als sie den Abholpunkt erreichte, wo die Passagiere aus der Zollkontrolle kamen, pochte ihr Herz wild. Ich habe ihn verpasst, dachte sie, während sie in die Menge eintauchte und sich suchend umschaute. Sie sah nur fremde Gesichter, eine endlose Reihe von Menschen, die sie nicht kannte, die an ihr vorbeiströmten, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Menschen, deren Lebenslinien sich nie mit der ihren kreuzen
würden. Plötzlich schien es ihr, als hätte sie immer nur Tom gesucht und ihn immer gerade verpasst. Als hätte sie ihn immer an sich vorbeigehen lassen, ohne ihn zu erkennen.
    Aber jetzt kenne ich dein Gesicht.
    »Julia?«
    Sie wirbelte herum und sah ihn direkt vor sich stehen. Er wirkte müde und verknautscht nach seinem langen Flug. Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, schlang sie die Arme um seinen Hals, und er lachte überrascht auf.
    »Was für ein Empfang! Damit habe ich gar nicht gerechnet«, sagte er.
    »Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.«
    »Ich auch«, erwiderte er leise.
    »Du hattest recht, Tom. Du hattest ja so recht!«
    »Womit?«
    »Du hast mir mal gesagt, ich käme dir bekannt vor. Wir wären uns schon einmal begegnet.«
    »Sind wir das?«
    Sie sah in das Gesicht, das ihr erst heute Nachmittag von einem Porträt entgegengeblickt hatte. Ein Gesicht, das sie schon immer gekannt, schon immer geliebt hatte. Norris’ Gesicht.
    Sie lächelte. »Ja.«

1888
     
    Und nun weißt Du also alles, Margaret, und ich habe die beruhigende Gewissheit, dass die Geschichte nicht mit mir sterben wird.
    Deine Tante Rose hat zwar nie geheiratet oder eigene Kinder gehabt, aber Du kannst mir glauben, meine liebe Margaret, dass Du ihr genug Freude für mehr als ein Menschenleben geschenkt hast. Aldous Grenville hat nach diesen Ereignissen nur noch kurze Zeit gelebt, aber die wenigen Jahre, die er mit Dir hatte, waren für ihn ein Quell des Glücks. Ich hoffe, Du wirst es ihm nicht zum Vorwurf machen, dass er Dich nie öffentlich als seine Tochter anerkannt hat. Erinnere Dich stattdessen daran, wie großzügig er für Dich und Rose gesorgt hat, indem er Euch seinen Landsitz in Weston vermachte, wo Du Dir nun Dein eigenes Haus gebaut hast. Wie stolz wäre er auf Deinen scharfen Forschergeist gewesen! Wie stolz wäre er gewesen, zu erfahren, dass seine Tochter zu den ersten Absolventinnen der neuen Medizinischen Hochschule für Frauen gehörte! Was für eine wunderbare neue Welt, in der Frauen nun endlich auch so Großes erreichen können!
    Nun gehört die Zukunft unseren Enkelkindern. Du schreibst, dass Dein Enkel Samuel schon eine ganz erstaunliche wissenschaftliche Begabung an den Tag legt. Du musst begeistert sein, weißt Du doch besser als irgendjemand sonst, dass es keinen edleren Beruf als den des Heilers gibt. Ich hoffe inständig, dass der junge Samuel dieser Berufung folgen und damit die Tradition seiner hochbegabten Ahnen fortsetzen wird. Wer Leben rettet, dem ist eine ganz eigene Art von Unsterblichkeit gewährt, in den Generationen von
Menschen, die er rettet, und den Nachkommen, die sonst nie geboren worden wären. Heilen bedeutet, der Zukunft seinen Stempel aufzudrücken.
    Und so, liebe Margaret, ende ich diesen letzten Brief mit einem Segenswunsch für Deinen Enkel. Es ist das größte Geschenk, das ich ihm oder irgendeinem Menschen wünschen kann.
    Möge er den Arztberuf ergreifen.
     
    Es grüßt Dich Dein ergebenster
    O.W.H.

Anmerkung der Autorin
    Im März 1833 verließ Oliver Wendell Holmes Boston und reiste nach Frankreich, wo er in den folgenden zwei Jahren sein Medizinstudium abschloss. An der renommierten École de Médecine in Paris hatte der junge Holmes unbegrenzten Zugang zu anatomischen Studienobjekten, und einige der größten medizinischen und naturwissenschaftlichen Kapazitäten zählten zu seinen Lehrern. Als er nach Boston zurückkehrte, war er ein weit besserer Arzt als die meisten seiner amerikanischen Altersgenossen.
    1843 hielt er vor der Boston Society for Medical Improvement einen Vortrag mit dem Titel »Die ansteckende Natur des Kindbettfiebers«. Er sollte sich als sein größter Beitrag zur amerikanischen Medizin erweisen und führte eine neuartige Praxis ein, die uns heute selbstverständlich erscheint, zu Holmes’ Zeit jedoch eine radikale Neuerung bedeutete. Unzählige Menschenleben wurden gerettet, unendliches Leid vermieden durch
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