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Filzengraben

Filzengraben

Titel: Filzengraben
Autoren: Petra Reategui
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EINS
    Ein Donnerschlag zerriss die ungewöhnliche Schwüle dieses letzten Freitagnachmittags im März des Jahres 1737. Erschrocken fuhr Anna herum. Das dunkelgrüne Fläschchen, das sie eben von einer kleinen Transportkiste in eine größere und sicherere umpacken wollte, entglitt ihren Fingern und zerschellte klirrend auf dem Steinfußboden. Zwischen den zerborstenen Glassplittern bildeten sich winzige Lachen einer wasserklaren Flüssigkeit, dünne Rinnsale versickerten in den Fugen der Fliesen.
    Zuerst stand Anna vor Schreck wie gelähmt. Dann kniete sie nieder und sammelte vorsichtig die Scherben ein, die um den Schreibtischstuhl herum verstreut lagen. Sie schnupperte. Das würzige Odeur des ausgelaufenen Aqua mirabilis übertönte den kotigen Mief der Straße, der durch alle Ritzen von draußen ins Haus drang. Sie holte ein Tuch und wischte die Pfütze auf. Der fremde Geruch kitzelte ihr in der Nase. Nie zuvor hatte sie Gelegenheit gehabt, das kostbare Wunderwasser zu riechen. Sie schloss die Augen, sog tief den unbekannten Duft ein. Den sanften Duft von … Sie zögerte, atmete noch einmal. … von Orangen, überlegte sie. Und den scharfen der kleinen grünen Zitronen, die die welschen Bauchladenhändler an den Haustüren feilboten.
    Da waren noch andere Aromen, zu denen sie keine Bilder fand. War diese schwere Süße, die sie fast mit der Zunge zu schmecken glaubte, Bergamotte , von der sie die Herren Dalmonte und Feminis oft hatte reden hören? Oder Neroli, das Öl, das manchmal in den Warenverzeichnissen aufgelistet war, die zwischen den beiden Geschäftsmännern hin- und hergingen? Neroli. Sie liebte den geheimnisvollen Klang des Wortes, in dem die ganze Welt des Südens verborgen lag. Die gleißende Weite des Mittelmeers, blau-flirrende Luft über Zypressenhainen, tirilierende Lerchen, die hoch in den Himmel stiegen, schattige Alleen von Pomeranzenbäumen , durch die der Wind strich. So stellte sie sich die italienischen Lande vor.
    Mit dem zweiten Donnerschlag setzte der Regen ein. Einer Sintflut gleich stürzten die Wassermassen herab, klatschten gegen die Scheiben und schwappten durch das angelehnte Fenster, das zum Filzengraben ging. Eine Windbö stieß die Flügel auf und schlug sie gegen die Wand.
    Anna erhob sich, um das Fenster zu schließen. Frauen rannten mit gerafften Kleidern über die Gasse. Männer versuchten, in der vergeblichen Bemühung, nicht nass zu werden, ihre Röcke über den Kopf zu ziehen. Menschen drängten sich in Türnischen und unter Vordächer, wieder andere waren unter den Säulengang des Hauses »Zur gelben Lilie« schräg gegenüber geflüchtet. Sie erkannte die Magd des Pastors von Sankt Georg. Daneben, die Hände in den Taschen, ein hoch aufgeschossener Mann. Er spähte zu ihr herüber.
    Rasch legte Anna den Fensterriegel vor. Durch das matte Glas lugte sie nach dem Unbekannten. Er hielt den Kopf schräg zwischen den hochgezogenen Schultern und bibberte am ganzen Körper, was ihn aber nicht davon abhielt, Dalmontes Haus mit unverhohlener Neugier in Augenschein zu nehmen. Mager war der Kerl und erbärmlich dünn angezogen, dachte Anna. Als sein Blick wieder das Fenster suchte, hinter dem sie stand, zog sie sich zurück. Obwohl der andere sie jetzt nicht mehr sehen konnte, fühlte sie sich beobachtet.
    Sie hielt noch immer den Lappen und die Glassplitter in der Hand. Im Schrank fand sie einen flachen Zinnteller, auf den sie die Scherben abstreifte. Anna würde ihr Missgeschick Herrn Dalmonte sagen müssen. So konnte die Lieferung für Hartig in Maastricht nicht hinausgehen. Sie würden Feminis’ Tochter Johanna Catharina um Ersatz bitten müssen, falls sie selbst nicht mehr genügend Flaschen auf Lager hatten. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken. Nicht dass der Spediteur jemals unfreundlich zu ihr gewesen wäre. Im Gegenteil. Aber sie war wütend auf sich, dass sie die schmale Rosoli mit dem teuren Heilwasser hatte fallen lassen. Nur wegen eines dummen Gewitters. Eigentlich war sie sonst nicht schreckhaft.
    Als sie noch mit ihren Eltern auf den Niederländerschiffen unterwegs war, hatte sie alles kennengelernt, vom Sturm zerfetzte Segel, geborstene Mastbäume, verrutschte Lasten, die drohten, das Schiff zum Kentern zu bringen. Donner, Blitze, Wetterleuchten. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie jemals wirklich Angst
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