Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
Athenaeum.
    Und Mrs. Zaccardi, die selbst keinen Tag jünger als sechzig war, flirtete höflich zurück.
    »Es kommt nicht alle Tage vor, dass wir eine so bedeutsame Schenkung erhalten, Mr. Page«, sagte sie. »Scharen von Wissenschaftlern stehen bereits Schlange und können es kaum erwarten, diese Briefe in die Hände zu bekommen. Es ist schon eine ganze Weile her, seit zuletzt neues Holmes-Material aufgetaucht ist, und deswegen freut es uns ganz besonders, dass Sie beschlossen haben, uns Ihre Sammlung zu stiften.«
    »Oh, ich habe mir das lange und gründlich überlegt«, erwiderte Henry. »Ich habe auch andere Institutionen in Betracht gezogen. Aber das Athenaeum hat mit Abstand die attraktivste Direktorin.«
    Mrs. Zaccardi lachte. »Und Sie brauchen eine neue Brille, Sir. Ich verspreche Ihnen, ich werde mein gewagtestes Kleid tragen, wenn Sie und Julia uns heute Abend beim Diner des Kuratoriums Gesellschaft leisten wollen. Ich weiß, dass die Herrschaften ganz erpicht darauf sind, Sie beide kennenzulernen.«
    »Ich wünschte, wir könnten die Einladung annehmen«, sagte Henry. »Aber mein Großneffe kommt heute Abend mit dem Flugzeug aus Hongkong zurück. Julia und ich haben vor, den Abend mit ihm zu verbringen.«
    »Dann vielleicht nächsten Monat.« Mrs. Zaccardi stand auf. »Nochmals vielen Dank. Kaum ein Sohn der Stadt wird in Boston so verehrt wie Oliver Wendell Holmes. Und die Geschichte, die er in diesen Briefen erzählt« Sie lachte verlegen. »Sie ist so herzzerreißend, dass sie mich fast zu Tränen gerührt hat. Es gibt so viele Geschichten, die wir nie zu hören bekommen werden, so viele andere Stimmen, die für uns endgültig verloren sind. Danke, dass Sie uns die Geschichte von Rose Connolly geschenkt haben.«
    Als Henry und Julia das Büro verließen, begleitete sie das
energische Tock-tock seines Gehstocks. Um diese Zeit am frühen Donnerstagmorgen war das Athenaeum noch wie ausgestorben. Sie hatten den Aufzug für sich, und im Foyer, dessen Wände vom Klappern des Gehstocks widerhallten, waren sie die einzigen Besucher. Als sie an einem Ausstellungsraum vorbeikamen, blieb Henry stehen. Er deutete auf das Schild mit dem Titel der aktuellen Ausstellung: Boston und die Transzendentalisten: Porträts einer Epoche.
    »Das war genau Roses Zeit«, sagte er.
    »Möchten Sie reinschauen?«
    »Wir haben den ganzen Tag Zeit. Warum nicht?«
    Sie betraten den Ausstellungsraum. Da sie die einzigen Besucher waren, konnten sie jedes Gemälde und jede Lithografie in aller Ruhe studieren. Sie blieben vor einem Bild aus dem Jahr 1832 stehen, das den Blick von Pemberton Hill auf den Hafen von Boston zeigte, und Julia fragte sich: Hat Rose dieses Panorama mit eigenen Augen gesehen? Hat sie diesen hübschen Zaun im Vordergrund bewundert, diesen Blick über die Dächer? Sie gingen weiter zu einer Lithografie der Colonnade Row, mit einer Gruppe elegant gekleideter Damen und Herren unter den stattlichen Bäumen, und sie fragte sich, ob Rose unter eben diesen Bäumen spazieren gegangen war. Sie betrachteten Porträts von Theodore Parker und Reverend William Channing, Gesichter, die Rose durchaus auf der Straße oder an irgendeinem Fenster gesehen haben könnte. Das hier ist deine Welt, Rose, eine Welt, die heute längst Geschichte ist. Genau wie du.
    Sie hatten ihren Rundgang fast beendet, als Henry so abrupt stehen blieb, dass Julia gegen ihn stieß. Sie spürte, dass er alle Muskeln anspannte.
    »Was ist?«, fragte sie. Dann fiel ihr Blick auf das Ölgemälde, das er anstarrte, und auch sie hielt sogleich verblüfft inne. Dieses Gesicht schien nicht hierherzugehören, in einen Raum voller Bildnisse von Fremden – dieses Gesicht, das sie beide kannten. Der dunkelhaarige Mann, der sie aus dem Bild anblickte, stand an einem Schreibtisch und hatte die Hand
auf einen Totenschädel gelegt. Trotz des üppigen Backenbarts, des Halstuchs und des Gehrocks, den er trug, war das Gesicht ihr unglaublich vertraut.
    »Mein Gott«, stieß Henry hervor. »Das ist Tom!«
    »Aber es wurde 1792 gemalt.«
    »Sehen Sie sich die Augen an, den Mund. Das ist eindeutig unser Tom.«
    Julia las stirnrunzelnd die Infotafel neben dem Bild. »Der Künstler ist Christian Gullager. Wer der Porträtierte ist, steht da nicht.«
    Sie hörten Schritte im Foyer und sahen eine Bibliothekarin an der Tür des Ausstellungsraums vorbeigehen.
    »Entschuldigen Sie!«, rief Henry. »Können Sie uns etwas über dieses Gemälde sagen?«
    Die Bibliothekarin kam in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher