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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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20. März 1888
    Liebste Margaret,
    ich danke Dir für Deine freundlichen Zeilen, in denen Du mir so aufrichtig Dein Beileid zum Tod meiner geliebten Amelia aussprichst. Dieser Winter ist eine sehr schwere Zeit für mich gewesen – bringt doch, wie es scheint, jeder Monat Nachricht vom Hinscheiden eines weiteren alten Freundes, dahingerafft von Krankheit und Altersschwäche. Nun muss ich mit tiefer Schwermut auf die rasch dahinschwindenden Jahre blicken, die mir noch verbleiben.
    Mir ist klar geworden, dass dies vielleicht meine letzte Gelegenheit ist, auf ein schwieriges Thema zu sprechen zu kommen, das ich schon längst hätte anschneiden sollen. Ich habe immer gezögert, es zu erwähnen, da ich wusste, dass Deine Tante es für das Klügste hielt, es Dir vorzuenthalten. Glaube mir, sie hat es allein aus Liebe getan, weil sie Dich schützen wollte. Aber ich kenne Dich seit Deiner frühesten Kindheit, liebe Margaret, und habe Dich zu der furchtlosen Frau heranwachsen sehen, die Du heute bist. Ich weiß, dass Du fest an die Macht der Wahrheit glaubst. Und deshalb bin ich davon überzeugt, dass es auch Dein Wunsch ist, diese Geschichte zu hören, sosehr sie Dich auch erschüttern mag.
    Achtundfünfzig Jahre sind seit jenen Ereignissen vergangen. Du warst damals noch sehr klein und dürftest keine Erinnerung daran haben. Ich selbst hatte sie fast schon vergessen. Aber dann stieß ich vergangenen Mittwoch auf einen alten Zeitungsausschnitt, der all die Jahre zwischen den Seiten meiner alten Ausgabe von Wistars Anatomie gesteckt hatte, und mir wurde bewusst, dass die Tatsachen höchstwahrscheinlich
mit mir untergehen werden, wenn ich nicht bald davon erzähle. Nach dem Tod Deiner Tante bin ich der letzte Verbliebene, der die Geschichte noch kennt. Alle anderen sind nicht mehr.
    Ich muss Dich warnen: Die Einzelheiten sind alles andere als erfreulich. Aber es ist auch eine Geschichte von edler Seelengröße und bewegender Tapferkeit. Du hättest vielleicht nicht gedacht, dass Deine Tante diese Eigenschaften besaß. Zweifellos schien sie nicht außergewöhnlicher als irgendeine grauhaarige alte Dame, der man auf der Straße begegnet. Doch ich versichere Dir, Margaret, sie verdiente unseren höchsten Respekt.
    Vielleicht mehr als irgendeine Frau, die ich je gekannt habe.
    Jetzt ist es spät geworden, und nach Einbruch der Dunkelheit kann ein alter Mann die Augen nicht mehr so lange offen halten. Fürs Erste lege ich Dir den Zeitungsausschnitt bei, den ich bereits erwähnte. Falls Du nichts weiter von der Sache zu hören wünschst, so lass es mich wissen, und ich werde das Thema nie wieder ansprechen. Aber wenn Dich die Geschichte Deiner Eltern ernsthaft interessiert, dann werde ich bei nächster Gelegenheit wieder zur Feder greifen. Und Du wirst die Geschichte – die wahre Geschichte – von Deiner Tante und dem West End Reaper erfahren.
     
    Es grüßt Dich recht herzlich
    Dein
    O.W.H.

1
    Gegenwart
     
    So also endet eine Ehe, dachte Julia Hamill, während sie die Schaufel in die Erde stieß. Nicht mit zärtlich geflüsterten Abschiedsworten, nicht mit dem liebevollen Druck einer arthritischen Hand irgendwann in vierzig Jahren, nicht mit einer Schar trauernder Kinder und Enkelkinder, die sich um ihr Krankenhausbett versammeln. Sie hob eine Schaufel voll Erde heraus und warf sie zur Seite. Kleine Steinchen fielen rasselnd auf den stetig anwachsenden Hügel. Alles nur Lehm und Steine, für nichts zu gebrauchen außer vielleicht für Brombeersträucher. Unfruchtbarer Boden – wie ihre Ehe, aus der nichts Bleibendes hervorgegangen war, nichts, was sich zu bewahren lohnte.
    Sie trat auf die Schaufel und hörte einen hellen, metallischen Klang, während ihr die Erschütterung bis ins Rückgrat fuhr. Wieder war das Blatt auf einen Stein gestoßen, einen großen, wie es sich anhörte. Julia setzte neu an, doch aus welchem Winkel sie den Stein auch anging, es wollte ihr nicht gelingen, ihn zu lockern. Frustriert und schwitzend stand sie in der brennenden Sonne und starrte in das Loch hinab. Den ganzen Vormittag hatte sie gearbeitet wie eine Besessene, und unter ihren Lederhandschuhen platzten schon die Blasen auf. Beim Graben hatte sie eine Wolke von Stechmücken aufgescheucht, die sirrend ihr Gesicht umschwärmten und sich in ihren Haaren verfingen.
    Es führte kein Weg daran vorbei: Wenn sie auf diesem Grundstück etwas anpflanzen wollte, wenn sie diese von Unkraut überwucherte Wiese in einen Garten verwandeln wollte, musste
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