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Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld

Titel: Und vergib uns unsere Schuld - Und vergib uns unsere Schuld
Autoren: Claus Cornelius Fischer
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    Der unfertige Junge ging sonst nie durch den Park, schon gar nicht bei Nacht. Er ging nachts nicht durch den Park, weil er zwischen den Bäumen im Dunkeln Angst hatte, und manchmal schämte er sich deswegen und dachte, dass er bestimmt keine Angst mehr haben würde, wenn er eines Tages fertig wäre.
    Es war allerdings nicht nur die Angst vor der Dunkelheit, die ihm das Gefühl gab, unfertig zu sein. Es war auch seine Schüchternheit und dass ihm so viele Gedanken im Kopf herumschwirrten, Fragen, ohne deren Antworten man einfach keinen Überblick hatte.
    Oder sein Gesicht, wenn er in den Spiegel sah – keine einzige Falte, keine Kante, alles noch rund und weich, das Kinn, die Lippen, die Augen. Wie eine Kinderzeichnung. Er hatte immer gehofft, mit vierzehn würde er nicht mehr so provisorisch aussehen, und jetzt war er bald fünfzehn, und er musste immer noch die Wollmütze aufsetzen und sie tief in die Stirn ziehen, damit möglichst viel von ihm verborgen blieb.
    Er spürte es am heftigsten, wenn er allein war, das Gefühl, so wie jetzt, obwohl der Rausch der Party noch in ihm flimmerte. Sein Herz raste, und er hörte die Bässe, und er fühlte sie in seiner Brust, direkt an den Rippen und bis hinauf zum Gaumen und noch höher, ein buntes Wetterleuchten dicht hinter der Stirn. Er hatte genug Zeug eingeworfen, um die Angst klein zu halten, und trotzdem lief er nur durch den Park, um schneller zu Tic zu kommen. Sobald er mit Tic zusammen war, ging das Gefühl weg. Sie brauchte ihn bloß anzusehen oder seine Hand zu berühren. Es war ziemlich kitschig wahrscheinlich.
    Der unfertige Junge schwankte leicht. Er trug rote Sneakers, einegraue Bottom-down-Hose, ein grauschwarzes Sweatshirt und trotz der Wärme die Wollmütze, eine orangefarbene, weil die Königin heute Geburtstag hatte. Er hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben. Meistens wusste er nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte, deswegen vergrub er sie in den Taschen, und Tic musste sie immer herausziehen, wenn sie wollte, dass er sie umarmte. Er hätte sie am liebsten die ganze Zeit umarmt, aber er traute sich nicht. Er wünschte, er wäre schon weiter; schon fertig.
    Es war eine warme Nacht, besonders für April. Der Junge konnte die ersten Glühwürmchen sehen, die über den Büschen blinkten, und Lichter auf dem Rasen, wo Leute lagen und weiter Party machten, alle, die nach den Feiern noch nicht nach Hause wollten. Sie saßen da und tranken Bier oder sonst was und hörten Radio, Hip-Hop, voll aufgedreht, oder Jazz, alles, was in den Kneipen und auf den Straßen den ganzen Nachmittag über gespielt worden war.
    In diesem Teil des Parks gab es Bäume und dichte Sträucher, und von überall her drangen Musik und Lachen und manchmal auch ein Schrei. Obwohl es dunkel war, konnte der Junge genug sehen, denn der Himmel leuchtete rot über der ganzen Stadt mit ihren Straßen und Grachten, und es war noch so viel vom hämmernden Rave übrig, dass immer wieder Lichter und Farben vor seinen Augen aufblitzten.
    Der Junge dachte, dass es ihm besser gehen würde, wenn er bei den anderen war und noch ein paar von den Tabletten genommen hatte, die er in den Taschen umklammerte. Nicht, dass er süchtig war. Er war auch kein Dealer, nicht mal annähernd – er hatte nur Zugang dazu, konnte was organisieren, nichts, was er nicht selbst eingeworfen hätte. Er hatte es schon gestern Abend besorgt, und alles nur für Deniz.
    Er ging schneller. Das Gras war weich unter seinen Sohlen, er stellte es sich feucht und saftig vor. Er versuchte, das Gras zu riechen, aber es gelang ihm nicht; vielleicht rochen manche Sachen in der Nacht nicht so stark. Alles, was er riechen konnte, war der Rauch von den Feuern und Pferdeäpfel und Pisse, wenn er an einem der eisernen Stehurinale vorbeikam. Manchmal trat er gegen eine weggeworfeneCola- oder Bierdose, eine leere Wasserflasche aus Plastik oder einen Pizzakarton. Er trat dagegen, aber er hörte keinen Laut, als würde der Schall die Entfernung zwischen seinen Füßen und seinem Kopf nicht mehr schaffen.
    Er schluckte, um seine Ohren frei zu bekommen. Er hörte die ganze Zeit ein Summen neben den Trommeln und den Bässen und dem Lärm des Verkehrs rings um den Park. Alle Autos fuhren mit offenem Verdeck oder heruntergekurbelten Scheiben, die Soundanlagen voll aufgedreht.
    Der Junge hatte Lust weiterzutanzen, die ganze Nacht wegzutanzen mit Tic und Deniz und Robbie. Tic war irgendwann am Nachmittag während der Party
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