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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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sie da einfach durch. Und dieser Stein war ihr im Weg.

    Plötzlich schien ihr das ganze Unterfangen zum Scheitern verurteilt, mehrere Nummern zu groß für ihre armseligen Anstrengungen. Sie ließ die Schaufel fallen und sank zu Boden, landete unsanft mit dem Po auf dem steinigen Erdhaufen. Wie war sie überhaupt auf die Idee gekommen, sie könnte diesen Garten wieder herrichten, dieses Haus retten? Über das wuchernde Unkraut hinweg starrte sie auf die windschiefe Veranda, die verwitterten Holzschindeln. Julias Schnapsidee – so sollte sie das Ganze nennen. Gekauft zu einem Zeitpunkt, als sie nicht bei klarem Verstand gewesen, als ihr ganzes Leben in Stücke gegangen war. Warum nicht noch mehr Ballast an Bord des sinkenden Schiffs nehmen? Es sollte ein Trostpreis sein dafür, dass sie die Scheidung überlebt hatte. Mit achtunddreißig würde Julia endlich ein Haus haben, das ihr gehörte, ein Haus mit einer Vergangenheit, mit einer Seele. Als sie das erste Mal mit der Maklerin durch die Räume gegangen war und die handgeschnitzten Deckenbalken gesehen hatte, als sie durch einen Riss in den zahlreichen Schichten, die seither dazugekommen waren, ein Stückchen der alten Tapete erspäht hatte, da hatte sie gewusst, dass dieses Haus etwas Besonderes war. Und es hatte nach ihr gerufen, sie um Hilfe angefleht.
    »Die Lage ist unschlagbar«, hatte die Maklerin gesagt. »Und Sie bekommen fast viertausend Quadratmeter Grund dazu; so was finden Sie heute kaum noch, so nahe bei Boston.«
    »Und warum ist es dann immer noch auf dem Markt?«, hatte Julia gefragt.
    »Sie sehen ja, in was für einem schlechten Zustand es ist. Als wir es in unsere Kartei aufgenommen haben, war hier alles bis unter die Decke zugestellt mit Kisten und Kartons voller Bücher und alter Papiere. Die Erben haben einen Monat gebraucht, um alles rauszuschaffen. Wie Sie sehen, muss es von Grund auf renoviert werden, bis auf das Fundament.«
    »Na ja, was mir gefällt, ist, dass es eine interessante Vergangenheit hat. Der Zustand würde mich nicht davon abhalten, es zu kaufen.«

    Die Maklerin zögerte. »Es gibt da noch etwas, was ich Ihnen sagen sollte. Im Rahmen der Offenlegungspflicht.«
    »Was denn?«zu
    »Die Vorbesitzerin war schon über neunzig, und – nun ja, sie ist hier gestorben. Das schreckt manche Interessenten ein wenig ab.«
    »Über neunzig? Dann war es also eine natürliche Todesursache, oder?«
    »Das nimmt man jedenfalls an.«
    Julia runzelte die Stirn. »Man weiß es nicht genau?«
    »Es war Sommer. Und es vergingen fast drei Wochen, bis einer ihrer Verwandten sie …« Die Maklerin verstummte. Plötzlich hellte ihre Miene sich auf. »Aber wissen Sie, das Grundstück allein ist schon etwas ganz Besonderes. Sie könnten das ganze Haus abreißen. Sich alles vom Hals schaffen und von vorn anfangen!«
    So, wie man sich eine in die Jahre gekommene Ehefrau wie mich vom Hals schafft, hatte Julia gedacht. Dieses prächtige, verfallene Haus und ich, wir haben beide etwas Besseres verdient.
    Jetzt, als sie zusammengesunken auf dem Erdhaufen hockte und nach Mücken schlug, dachte sie: Was habe ich mir da eingebrockt? Wenn Richard diese Ruine je zu Gesicht bekäme, würde er alles bestätigt sehen, was er immer schon über sie gedacht hatte: die leichtgläubige Julia, Wachs in den Händen jedes Maklers. Stolze Besitzerin eines Schrotthaufens.
    Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, über die schweißnasse Wange. Dann sah sie wieder in das Loch hinunter. Wie konnte sie auch nur im Entferntesten hoffen, ihr Leben in Ordnung zu bringen, wenn sie nicht einmal die Kraft aufbrachte, einen blöden Stein aus dem Weg zu räumen?
    Sie griff nach einer Pflanzschaufel, beugte sich über das Loch und machte sich daran, die Erde wegzukratzen. Mehr und mehr von dem Stein kam zum Vorschein, wie die Spitze eines Eisbergs, über dessen wahre Dimensionen sie nur Mutmaßungen anstellen konnte. Vielleicht groß genug, um die
Titanic zum Sinken zu bringen. Sie grub weiter, immer tiefer und tiefer, ohne auf die Mücken zu achten oder auf die Sonne, die auf ihren ungeschützten Kopf niederbrannte. Der Stein wurde plötzlich zu einem Symbol für all die Hindernisse, all die Herausforderungen, vor denen sie in der Vergangenheit immer gekniffen hatte.
    Ich lass nicht zu, dass du mich besiegst.
    Mit der Pflanzschaufel hackte sie auf die Erde unter dem Stein ein und versuchte, so viel Platz zu schaffen, dass sie die Schaufel unter den Stein schieben könnte. Die
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