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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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von ihrer Existenz gewusst, als sie beschlossen hatten, hier zu bauen? Hatte ein Stein das Grab markiert?
    Oder wusste niemand, dass sie hier begraben war? Gab es niemanden, der sich an sie erinnerte?
    Sie strampelte die Decke zur Seite und blieb schwitzend auf der Matratze liegen. Obwohl beide Fenster offen waren, war es stickig im Schlafzimmer; nicht der Hauch einer Brise, der die Hitze gelindert hätte. Ein Glühwürmchen blinkte in der Dunkelheit über ihr. Wie ein Irrlicht kreiste es durchs Zimmer und suchte verzweifelt zu entkommen.
    Sie setzte sich im Bett auf und schaltete das Licht ein. Das magische Glimmen über ihr verwandelte sich schlagartig in einen gewöhnlichen braunen Käfer, der an der Decke umherflatterte. Sie überlegte, wie sie ihn fangen könnte, ohne ihn zu töten. Fragte sich, ob das Schicksal eines verirrten Insekts die Mühe wert war.
    Das Telefon klingelte. Es gab nur einen Menschen, der sie abends um halb zwölf noch anrufen würde.
    »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt«, sagte Vicky. »Ich bin gerade erst von einem dieser endlosen Abendessen nach Hause gekommen.«
    »Es ist sowieso zu heiß zum Schlafen.«
    »Julia, da war noch etwas, was ich dir sagen wollte, als ich heute Mittag bei dir war. Aber vor all den Leuten konnte ich nicht darüber sprechen.«
    »Keine Ratschläge mehr wegen des Hauses, okay?«

    »Es geht nicht um das Haus. Es geht um Richard. Es ist mir total unangenehm, dass ich diejenige bin, die es dir beibringen muss, aber ich an deiner Stelle würde es wissen wollen. Du solltest es nicht über zehn Ecken erfahren.«
    »Was denn?«
    »Richard heiratet wieder.«
    Julia umklammerte den Hörer, packte ihn so fest, dass ihre Finger taub wurden. In dem langen Schweigen, das folgte, hörte sie ihren eigenen pochenden Herzschlag in den Ohren.
    »Du hast es also nicht gewusst.«
    »Nein«, hauchte Julia.
    »Der Kerl ist so ein Arschloch«, knurrte Vicky mit genug Bitterkeit für zwei. »Wie ich höre, ist es schon seit einem Monat geplant. Tiffani heißt sie – mit i . Noch kitschiger geht’s ja wohl kaum. Ich habe keine Spur Achtung übrig für einen Mann, der eine Tiffani heiratet.«
    »Ich begreife nicht, wie das so schnell gehen konnte.«
    »Oh, Schatz, das ist doch wohl offensichtlich, oder nicht? Er muss schon länger was mit ihr gehabt haben, als ihr noch verheiratet wart. Ist dir nie aufgefallen, dass er öfter mal spät nach Hause kam? Und dann waren da die ganzen Geschäftsreisen. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, etwas zu sagen.«
    Julia schluckte. »Ich will jetzt nicht darüber reden.«
    »Ich hätte es mir denken können. Ein Mann verlangt nicht einfach so aus heiterem Himmel die Scheidung.«
    »Gute Nacht, Vicky.«
    »Hey, alles in Ordnung?«
    »Ich will einfach nicht reden.« Julia legte auf.
    Lange saß sie regungslos da. Über ihrem Kopf kreiste immer noch das Glühwürmchen auf der Suche nach einem Ausweg aus seinem Gefängnis. Irgendwann würde es am Ende seiner Kräfte sein. Gefangen ohne Nahrung und ohne Wasser, würde es in diesem Zimmer sterben.
    Sie stieg auf die Matratze. Als das Glühwürmchen auf sie zuschwirrte, fing sie es rasch ein. Mit dem Insekt in den hohlen
Händen ging sie barfuß in die Küche und öffnete die Hintertür. Draußen auf der Veranda ließ sie das Glühwürmchen frei. Es flatterte in die Dunkelheit davon, ohne sein Licht noch einmal aufglimmen zu lassen, einzig und allein auf Flucht bedacht.
    Wusste es, wer ihm das Leben gerettet hatte? Wenigstens eine winzige Kleinigkeit, die sie zustande gebracht hatte.
    Sie blieb noch eine Weile auf der Veranda stehen und sog gierig die Nachtluft in ihre Lunge. Der Gedanke, in diese stickig-heiße Schlafkammer zurückzukehren, war ihr unerträglich.
    Richard heiratete wieder.
    Ihr Atem stockte und entwich dann in einem Schluchzen. Sie packte das Geländer und spürte, wie sich kleine Splitter in ihre Finger bohrten.
    Und ich bin die Letzte, die es erfährt.
    Sie starrte hinaus in die Nacht und dachte an die Gebeine, die nur wenige Dutzend Meter von hier verscharrt worden waren. Eine vergessene Frau, ihr Name verloren im Nebel der Jahrhunderte. Sie dachte an die kalte Erde, die auf ihr gelastet hatte, während oben die winterlichen Flocken wirbelten, den Wechsel der Jahreszeiten, Jahrzehnt um Jahrzehnt, das verstrich, während das Fleisch verrottete und die Würmer sich daran gütlich taten. Ich bin wie du: auch eine vergessene Frau, dachte sie.
    Und ich weiß nicht einmal,
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