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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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vom Anblick des Gemäldes losreißen. »Das ist mir bis jetzt nie aufgefallen.«
    »Mir ist es sofort aufgefallen. Und ich hatte keinen Zweifel.« Rose starrte das Bildnis des jungen Mannes an, und ein trauriges Lächeln spielte um ihre Lippen. »Den Menschen, den man liebt, erkennt man jederzeit wieder.«

36
    In Dr. Grenvilles prächtiger Kutsche fuhren sie westwärts auf der Straße nach Belmont, vorbei an Bauernhäusern und winterlichen Feldern, die Rose inzwischen wohlvertraut waren. Es war ein gnadenlos schöner Nachmittag, und der Schnee glitzerte unter dem wolkenlosen Himmel, genau wie vor zwei Wochen, als sie diesen Weg zu Fuß gegangen war. Damals bist du an meiner Seite gegangen, Norrie. Wenn ich die Augen schließe, kann ich beinahe glauben, dass du hier bei mir bist.
    »Ist es noch sehr weit?«, fragte Grenville.
    »Nur ein kurzes Stück, Sir.« Rose schlug die Augen auf und blinzelte, als die grelle Sonne ihr ins Gesicht schien und sie mit der unerbittlichen Wahrheit konfrontierte: Aber ich werde dich nie wiedersehen. Und ich werde dich jeden einzelnen Tag meines Lebens vermissen.
    »Hier ist er aufgewachsen, nicht wahr?«, sagte Grenville. »An dieser Straße.«
    Sie nickte. »Bald kommen wir zu Heppy Comforts Farm. Sie hatte ein lahmendes Kalb, das sie zu sich ins Haus geholt hat. Und es ist ihr so ans Herz gewachsen, dass sie es nicht fertigbrachte, es zu schlachten. Und ihr Nachbar ist Ezra Hutchinson. Seine Frau ist an Typhus gestorben.«
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Norris hat es mir erzählt.« Und sie würde es nie vergessen. Solange sie lebte, würde sie sich an jedes Wort, an jeden Augenblick mit ihm erinnern.
    »Die Marshall-Farm liegt auch an dieser Straße?«
    »Wir fahren nicht zu Isaac Marshalls Farm.«
    »Wohin dann?«
    Sie spähte voraus zu dem schmucken Bauernhaus, das soeben
am Horizont aufgetaucht war. »Ich kann das Haus schon sehen.«
    »Wer wohnt dort?«
    Ein Mann, der gütiger und großzügiger zu Norris war als sein eigener Vater.
    Kaum war die Kutsche zum Stehen gekommen, ging die Tür des Bauernhauses auf, und der alte Dr. Hallowell trat auf die Veranda. Seine düstere Miene verriet Rose, dass er schon von Norris’ Tod erfahren hatte. Er kam herbei, um ihr und Dr. Grenville aus der Kutsche zu helfen. Als sie die Stufen hinaufstiegen, sah Rose zu ihrer Überraschung einen zweiten Mann aus dem Haus kommen.
    Es war Isaac Marshall, und er sah unendlich viel älter aus als noch vor wenigen Wochen.
    Die Trauer um einen jungen Mann hatte die drei Männer, die auf der Veranda standen, zusammengeführt, und allen fiel es schwer, die richtigen Worte zu finden. Schweigend sahen sie einander an – die beiden Männer, die Norris hatten heranwachsen sehen, und der eine, der es hätte tun sollen.
    Rose schlüpfte an ihnen vorbei ins Haus, angelockt von einem Geräusch, auf das die Ohren der Männer nicht eingestellt waren: das Gurren eines Babys. Sie folgte ihm in die Stube, wo die grauhaarige Mrs. Hallowell saß und Meggie im Arm wiegte.
    »Ich bin gekommen, um sie zu holen«, sagte Rose.
    »Ich wusste, dass du kommen würdest.« Die Frau sah Rose hoffnungsvoll an, als sie ihr das Baby übergab. »Bitte sag mir, dass wir sie wiedersehen werden! Versprich mir, dass wir an ihrem Leben teilhaben dürfen.«
    »Oh, das werden Sie bestimmt, Ma’am«, antwortete Rose lächelnd. »So wie alle, die sie lieben.«
    Die drei Männer drehten sich um, als Rose mit dem Baby auf die Veranda hinaustrat. Und als Aldous Grenville seiner Tochter zum ersten Mal in die Augen schaute, lächelte Meggie zu ihm auf, als ob sie ihn wiedererkenne.

    »Sie heißt Margaret«, sagte Rose.
    »Margaret«, wiederholte er leise. Und er nahm das Kind in seine Arme.

37
    Gegenwart
     
    Julia trug ihren Koffer nach unten und stellte ihn neben die Haustür. Dann ging sie in die Bibliothek, wo Henry inmitten der Kartons saß, die schon zum Abtransport ins Boston Athenaeum bereitstanden. Julia und Henry hatten gemeinsam sämtliche Dokumente geordnet und die Kartons wieder verschlossen. Die Briefe von Oliver Wendell Holmes jedoch hatten sie sorgfältig aussortiert, um sie der Bibliothek zur Verwahrung zu übergeben. Henry hatte sie auf dem Tisch ausgebreitet und sich hingesetzt, um sie noch einmal zu lesen – zum vielleicht hundertsten Mal.
    »Es tut mir weh, sie herzugeben«, sagte er. »Vielleicht sollte ich sie doch behalten.«
    »Sie haben schon versprochen, dass Sie sie dem Athenaeum überlassen werden.«
    »Ich
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