Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
den Saal und betrachtete lächelnd das Porträt. »Es ist wirklich sehr hübsch, nicht wahr?«, sagte sie. »Gullager war einer der besten Porträtmaler seiner Zeit.«
    »Wer ist denn der Mann auf dem Bild?«
    »Wir glauben, dass es einen prominenten Bostoner Arzt namens Aldous Grenville darstellt. Es muss entstanden sein, als er neunzehn oder zwanzig war, denke ich. Er ist um 1832 herum auf tragische Weise bei einem Brand ums Leben gekommen. In seinem Landhaus in Weston.«
    Julia sah Henry an. »Norris’ Vater.«
    Die Bibliothekarin sah sie fragend an. »Ich habe nie gehört, dass er einen Sohn hatte. Ich weiß nur von seinem Neffen.«
    »Sie haben von Charles gehört?«, fragte Henry überrascht. »War er denn bekannt?«
    »O ja. Charles Lackaways Werk war zu seinen Lebzeiten sehr en vogue. Aber unter uns gesagt, seine Gedichte waren wirklich ziemlich furchtbar. Ich glaube, seine Beliebtheit verdankte er hauptsächlich seinem romantischen Image als der einhändige Poet. «
    »Er ist also tatsächlich Dichter geworden«, sagte Julia.
    »Und sogar ein sehr angesehener. Es hieß, er habe seine Hand beieinem Duellverloren, beidem es um eine Ladyging. Die Anekdote
machte ihn ausgesprochen begehrt beim schönen Geschlecht. Er starb schließlich mit Mitte fünfzig – an Syphilis.« Sie sah das Gemälde an. »Wenn das sein Onkel war, kann man nur zu dem Schluss kommen, dass das gute Aussehen in der Familie lag.«
    Während die Bibliothekarin sich entfernte, betrachtete Julia immer noch fasziniert das Porträt von Aldous Grenville, dem Mann, der Sophia Marshalls Liebhaber gewesen war. Jetzt weiß ich, was mit Norris’ Mutter passiert ist, dachte Julia. An einem Sommerabend, als ihr Sohn mit Fieber daniederlag, hatte Sophia sein Krankenbett verlassen und war zu Aldous Grenvilles Landhaus nach Weston geritten, um ihm zu sagen, dass er einen Sohn hatte, der jetzt schwer krank war.
    Aber Aldous war nicht zu Hause. Es war seine Schwester Eliza, der Sophia sich anvertraute, die sie um Hilfe anflehte. Hatte Eliza an ihren Sohn Charles gedacht, als sie ihren nächsten Schritt beschloss? War es nur der Skandal, den sie fürchtete, oder war es das Auftauchen eines neuen Erben im Stammbaum der Grenvilles, eines Bastards, der sich nehmen würde, was doch ihr eigener Sohn einmal erben sollte?
    Das war der Tag, an dem Sophia Marshall verschwunden war.
    Fast zwei Jahrhunderte sollten vergehen, bis Julia beim Umgraben des unkrautüberwucherten Grundstücks, das einmal Aldous Grenvilles Sommersitz gewesen war, auf Sophia Marshalls Schädel stieß. Fast zweihundert Jahre hatte Sophia in ihrem namenlosen Grab gelegen, vergessen von der Welt.
    Bis jetzt. Die Toten mochten nie wiederkehren, aber die Wahrheit konnte wieder zum Leben erweckt werden.
    Sie starrte Grenvilles Porträt an und dachte: Du hast Norris nie als deinen Sohn anerkannt. Aber wenigstens hast du für das Wohl deiner Tochter Meggie gesorgt. Und durch sie wurde dein Blut von Generation zu Generation weitergegeben.
    Und heute war Aldous Grenville immer noch lebendig – in Tom.

    Henry war zu erschöpft, um sie zum Flughafen zu begleiten.
    Julia fuhr allein durch die Nacht und dachte an das Gespräch, das sie vor ein paar Wochen mit Henry gehabt hatte:
    »Ich glaube, Sie ziehen die falschen Lehren aus Roses Leben.«
    »Was wäre denn die richtige Lehre?«
    »Wenn’s um die Liebe geht, greif zu, ehe es zu spät ist!«
    Ich weiß nicht, ob ich es wagen kann, dachte sie.
    Aber Rose hätte es gewagt. Sie hat es gewagt.
    Wegen eines Unfalls in Newton staute sich der Verkehr auf dem Turnpike auf zwei Meilen. Während sie im Schritttempo vorrückte, dachte sie über Toms Anrufe in den letzten Wochen nach. Sie hatten sich über Henrys Gesundheit unterhalten, über die Schenkung an das Athenaeum. Unverfängliche Themen, nichts, was von ihr verlangt hätte, irgendwelche Geheimnisse preiszugeben.
    »Sie müssen ihm zeigen, dass Sie interessiert sind«, hatte Henry ihr gesagt. »Er glaubt nämlich nicht, dass Sie es sind.«
    Ich bin es. Aber ich habe Angst.
    Sie saß auf dem Turnpike fest, während die Minuten verstrichen. Und sie dachte daran, was Rose für die Liebe riskiert hatte. War es das wert gewesen? Hatte sie es je bereut?
    In Brookline begann der Verkehr plötzlich wieder zu fließen, doch da wusste sie schon, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würde. Als sie im Terminal E des Logan Airport ankam, war Toms Maschine bereits gelandet, und sie musste sich durch einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher