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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub
Autoren: Tess Gerritsen
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könnte es mir immer noch anders überlegen.«
    »Henry, die Briefe müssen sachgerecht gelagert werden. Die Archivare wissen, wie man sie am besten erhält. Und ist es nicht eine wunderbare Vorstellung, diese Geschichte mit der ganzen Welt zu teilen?«
    Henry blieb störrisch auf seinem Stuhl hocken und beäugte die Dokumente wie ein Geizkragen, der sich nicht von seinen Schätzen trennen will. »Sie bedeuten mir zu viel. Das ist etwas Persönliches.«
    Sie trat ans Fenster und blickte aufs Meer hinaus. »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie leise. »Für mich ist es inzwischen auch etwas Persönliches.«
    »Träumen Sie immer noch von ihr?«
    »Jede Nacht. Das geht jetzt schon seit Wochen so.«

    »Was haben Sie letzte Nacht geträumt?«
    »Es waren eher... Eindrücke. Bilder.«
    »Was für Bilder?«
    »Stoffballen. Bänder und Schleifen. Ich habe eine Nadel in der Hand und nähe.« Sie schüttelte den Kopf und lachte. »Henry, ich kann überhaupt nicht nähen.«
    »Aber Rose konnte es.«
    »Ja, das stimmt. Manchmal denke ich, sie ist wieder lebendig und spricht mit mir. Dadurch, dass ich ihre Briefe gelesen habe, habe ich ihre Seele zurückgeholt. Und jetzt träume ich bereits ihre Erinnerungen. Ich lebe ihr Leben noch einmal.«
    »Sind die Träume so lebhaft?«
    »Bis hin zur Farbe des Garns. Und das sagt mir, dass ich zu viel Zeit damit verbracht habe, über sie nachzudenken.« Und darüber, was aus ihrem Leben hätte werden können. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und wandte sich zu ihm um. »Ich sollte mich wohl auf den Weg zum Anleger machen, wenn ich die Fähre nicht verpassen will.«
    »Ich finde es schade, dass Sie gehen müssen. Wann kommen Sie mich denn wieder mal besuchen?«
    »Sie können auch jederzeit zu mir kommen.«
    »Vielleicht, wenn Tom zurück ist. Dann muss ich nur einmal runterfahren, um euch beide zu besuchen.« Er machte eine Pause. »Also, nun mal raus mit der Sprache: Was halten Sie eigentlich von ihm?«
    »Von Tom?«
    »Er ist Single, wissen Sie.«
    Sie lächelte. »Ich weiß, Henry.«
    »Er ist aber auch sehr wählerisch. Ich habe schon eine ganze Reihe von seinen Freundinnen mitbekommen, und mit keiner hat er es lange ausgehalten. Sie könnten die Ausnahme sein. Aber Sie müssen ihm zeigen, dass Sie interessiert sind. Er glaubt nämlich nicht, dass Sie es sind.«
    »Hat er Ihnen das gesagt?«
    »Er ist enttäuscht worden. Aber er ist auch ein geduldiger Mann.«

    »Nun, ich mag ihn wirklich.«
    »Und was ist das Problem?«
    »Vielleicht, dass ich ihn zu sehr mag. Das macht mir Angst. Ich weiß, wie schnell eine Beziehung zerbrechen kann.« Julia wandte sich wieder zum Fenster um und sah auf das Wasser hinaus, das still und glatt dalag wie ein Spiegel. »Eben noch sind Sie total verliebt, und alles ist wunderbar. Sie denken, dass nichts schiefgehen kann. Aber dann geht es doch schief, so wie bei mir und Richard. Oder so wie bei Rose Connolly. Und dann dürfen Sie für den Rest Ihres Lebens leiden. Rose hatte diesen kurzen Moment des Glücks mit Norris, und dann musste sie den Rest ihrer Tage mit der Erinnerung an das leben, was sie verloren hatte. Ich weiß nicht, ob es das wert ist, Henry. Ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde.«
    »Ich glaube, Sie ziehen die falschen Lehren aus Roses Leben.«
    »Was wäre denn die richtige Lehre?«
    »Wenn’s um die Liebe geht, greif zu, ehe es zu spät ist!«
    »Und nimm die Folgen auf dich?«
    Henry schnaubte verächtlich. »Wissen Sie, diese ganzen Träume, die Sie hatten – da steckt eine Botschaft drin, Julia, aber die stößt bei Ihnen auf taube Ohren. Sie hätte sich die Chance nicht entgehen lassen.«
    »Ich weiß. Aber ich bin nicht Rose Connolly.« Sie seufzte. »Auf Wiedersehen, Henry.«
     
    Sie hatte Henry noch nie so adrett gesehen. Als Julia mit ihm im Büro der Direktorin des Boston Athenaeum saß, warf sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zu. Das sollte derselbe alte Henry sein, der immer in ausgebeulten Hosen und zerschlissenen Flanellhemden in seinem klapprigen Haus in Maine herumschlurfte? Sie hatte das gleiche Outfit erwartet, als sie ihn am Morgen in seinem Bostoner Hotel abgeholt hatte. Aber der Mann, der im Foyer auf sie wartete, trug einen schwarzen Dreiteiler und hielt einen Gehstock aus Ebenholz mit Messingspitze in der Hand. Und nicht nur seine alten
Klamotten hatte Henry abgelegt, sondern auch seine ewige sauertöpfische Miene, und jetzt flirtete er regelrecht mit Mrs. Zaccardi, der Direktorin des
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