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Denn Wahrheit musst du suchen

Denn Wahrheit musst du suchen

Titel: Denn Wahrheit musst du suchen
Autoren: C. J. Daugherty
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Eins
    Allie steckte das Handy ein und kuschelte sich in ihre schwarze Jacke. Da sie dazu eine dunkle Jeans trug, war sie im spätnachmittäglichen Dämmerlicht praktisch unsichtbar.
    Nervös sah sie auf ihre Uhr. Sie wartete nun schon seit zwanzig Minuten.
Wenn das noch sehr viel länger dauert, dann …
    Sie musste schlucken.
    Vor ihr lag das imposante, schwarze Eisentor mit den scharfen Spitzen obendrauf. Soweit sie wusste, war das der einzige Zugang zum Schulgelände der Cimmeria Academy. Es befand sich ein paar Hundert Meter vom Internatsgebäude entfernt und konnte nur mittels einer Fernbedienung geöffnet werden, die im Büro der Rektorin unter Verschluss war.
    Autos waren ohnehin eine Seltenheit in Cimmeria. Die meisten Lehrer und Angestellten lebten auf dem Gelände. Freilich kamen jeden Tag Lieferwagen und Postautos, nicht zu vergessen die Wachleute, die für Raj Patel arbeiteten. Allie hatte die Wachen eine Zeit lang beobachtet und herausgefunden, dass sie um acht, sechzehn und vierundzwanzig Uhr Schichtwechsel hatten. Es war nun kurz vor vier, und wenn sie Glück hatte, würde bald jemand durch dieses Tor fahren, ehe sie entdeckt wurde.
    Ihr Versteck befand sich in unmittelbarer Nähe der Stelle, an der Jo getötet worden war. Die Erinnerung an jene Nacht quälte sie noch immer. Wenn sie die Augen schloss, sah sie wieder alles vor sich – die weiße Schneedecke, den zerbrechlichen Körper, der wie eine Stoffpuppe leblos auf der Straße lag … Und die Blutlache, die in den Schnee hineinwuchs wie die Blütenblätter einer tödlichen Blume.
    Sie machte die Augen wieder auf.
    Heute war da nur ein menschenleerer Waldweg.
    Soll ich wirklich?
, fragte sie sich unablässig, seit sie das Tor erreicht hatte. Ein Teil von ihr wollte einfach losheulen oder zurück auf ihr Zimmer rennen. Beides tat sie nicht. Stattdessen wappnete sie sich.
    Sie musste hier raus.
    Ein eisiger Wind schüttelte die Bäume in ihrer Umgebung und sandte einen Schauer eisiger Regentropfen auf sie hernieder. Bibbernd wickelte sie sich den Schal enger um den Hals. Das Rauschen im Geäst überdeckte den näher kommenden Motorenlärm. Als sie ihn endlich registrierte, waren die Scheinwerfer schon ganz nah.
    Sie duckte sich, um nicht vom Lichtkegel erfasst zu werden, und wartete startbereit wie die Leichtathletin, die sie bis vor ein paar Wochen gewesen war. Bis zu dem Überfall. Wegen der unnatürlichen Haltung tat ihr der ganze Körper weh. Auf ihren Körper zu hören, dafür war jetzt keine Zeit. Jetzt war abhauen angesagt.
    Atemlos beobachtete sie durch das Gitter des Zauns, wie das Auto langsam auf das Tor zufuhr und schließlich anhielt.
    Das war ihre Chance. Ihre einzige vielleicht.
    Doch erst mal tat sich gar nichts. Das Pochen in Allies verletztem Knie wurde schlimmer. Sich ruhig zu verhalten, kostete sie entsetzliche Mühe. Sehr viel länger würde sie das nicht schaffen.
    Sie schloss die Augen und versuchte, das Tor durch reine Willensanstrengung zu öffnen, doch es rührte sich nicht.
    Irgendwas stimmt da nicht.
    Vielleicht wissen sie längst Bescheid. Vielleicht hat Raj seine Wachleute losgeschickt, damit sie mich schnappen. Vielleicht sind das schon seine Leute.
    Ihr Mund war ganz trocken. Das Atmen fiel ihr schwer.
    Endlich setzte sich das große, schmiedeeiserne Tor zitternd in Bewegung und ging mit einem metallischen Quietschen auf.
    Allie zählte leise ihre Atemzüge mit – als sie bei acht war, kam das Tor mit einem Scheppern zum Stehen. Es stand nun komplett offen. Die Straße dahinter beschrieb eine Kurve und verschwand im dunklen Wald. In der Dämmerung sah es so aus, als würde sie gleich hinter dem Tor aufhören – als gäbe es da draußen gar keine Welt mehr. Allie wusste nicht, was geschehen würde. Wie aufmerksam Nathaniel die Schule überwachte. Aber das spielte nun keine Rolle mehr.
    Sie zog das Handy aus der Tasche und ließ es unter einen nahe gelegenen Baum fallen. Es würde ihr ohnehin nichts mehr nützen – da es jederzeit geortet werden konnte. Sie musste sich einfach darauf verlassen, dass Mark ihre Verabredung einhalten würde.
    Der Wagen musste jetzt nur noch weit genug ins Schulgelände hineinfahren, damit sie entwischen konnte, ohne vom Fahrer bemerkt zu werden.
    Doch quälend lange passierte erst mal gar nichts. Der Wagen blieb stehen, und der Motor tuckerte im Leerlauf vor sich hin – wie eine Katze, die schnurrend mit ihrer Beute spielt. Von ihrem Versteck aus konnte Allie den
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