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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden
Autoren: Eva Menasse
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Bändchen um den Traubenzucker natürlich wieder abriss. Sie kratzte den Rest der Folie mit dem Fingernagel ab, während sie, übertrieben ironisch, davon sprach, dass die meisten Menschen sich eben nicht beherrschen könnten und sich daher selbst um die größten Empfindungen brächten. Wortwiederholung!, mahnte die kritische Instanz in ihrem Kopf. Gerade bei einem Wort wie ›Empfindung‹ in dieser Situation sehr nachteilig. Sie hatte den viereckigen Traubenzucker endlich ausgepackt. Sie beugte sich zu Fiona hinüber, fragte sich, ob es wirklich wahr sein konnte, was sie da tat, und hielt ihn ihr vor den Mund, dabei bemüht, ihr nicht mit dem Arm die Sicht zu nehmen. Fiona runzelte die Stirn, schnappte mit makellos geschminkten Lippen danach und zog den Kopf sofort zurück. Es hatte nicht die geringste Berührung gegeben. Du furchtbare kleine Romantikerin, sagte Fiona, und übrigens, deine Sandalen stinken.
    Am Tag, als Martine ankommen sollte, hatte Fiona sich gerade wieder so im Griff. Die ersten zweieinhalb Wochen in dem italienischen Städtchen waren ein Balanceakt gewesen, mit irgendwie herumgebrachten Tagen und Nächten, in denen sie mit Alkohol, Zigaretten und kleinen Tabletten alle Grenzen aufsuchte, die sie kannte. Zweimal war sie mit einer Gruppe aus dem Sprachkurs essen gegangen, aber nach kurzer Zeit saß sie nur da und konnte die Stimmen kaum voneinander unterscheiden. Sie war dann immer früh aufgebrochen und hatte sich in der kleinen Wohnung, die sie gemietet hatte, wieder ihren speziellen Ritualen zugewandt.
    Im Kurs gab es mindestens zwei junge Männer, von denen sich unter anderen Umständen Ablenkung und Selbstbestätigung hätten erhoffen lassen, aber jeder Gedanke an Sex löste in Fiona zur Zeit Panik aus. Und nun sollte das Mädchen kommen. Sie hatte schon daran gedacht, einfach nicht zum Bahnhof zu gehen. Dann müsste die Kleine wohl den nächsten Zug nach Hause nehmen, und im Herbst könnte man von einem schrecklichen Missverständnis sprechen. Aber so etwas schaffte Fiona nicht, da war sie doch zu sehr Lehrerin.
    Vielleicht tat ihr das Mädchen sogar gut, in all der romantischen Verehrung, die es ihr entgegenbrachte, in seinem jugendlichen Übermut, der von den Härten des Lebens noch nichts wusste. Es geschah nur alle paar Jahre, dass eine Schülerin sie wirklich interessierte, und so wie mit Martine war es noch nie gewesen. Sie war ihr sofort aufgefallen, gleich in der ersten Stunde, weil sie so skeptisch schaute und als einzige fließend Französisch sprach. Die anderen schienen sie als Anführerin zu akzeptieren, obwohl Martine nichts Erkennbares dafür tat. Das brachte ihr bei Fiona den nächsten Pluspunkt ein. Sie kannte alle gruppendynamischen Spielchen, die die Mädchen in diesem Alter miteinander trieben, und die typischen Herrschaftsgesten der Leitzicken, wie es sie in fast jeder Klasse gab, verabscheute sie. Sie hatte in manchen Fällen ein gewisses Vergnügen daran gefunden, gerade die Leitzicken zu demütigen, und beobachtete danach mit naturwissenschaftlichem Interesse, wie sich die Machtverhältnisse verschoben.
    Vielleicht hatte sie es mit Martine ja ein bisschen übertrieben, aber im vergangenen Frühling, als sie so verliebt war wie noch nie, war das junge Mädchen gerade die richtige Begleitung gewesen. Sie unternahmen schwelgerische Ausflüge ins Umland, die nicht nur die Wochenenden schnell herumbringen sollten, welche der geheime Geliebte derzeit noch mit Frau und Kind verbringen musste, sondern schon Erkundungsreisen waren für eine gleißende Zukunft zu zweit.
    Von alldem wusste Martine nichts. Fiona gab nie viel von sich preis. Stattdessen ließ sie sich, während sie ihren Träumen nachhing, aus Martines Leben erzählen. Die Mädchen in diesem Alter sind ja noch so selbstbezogen, es fällt ihnen gar nicht auf. Pädagogisch konnte man ihr nichts vorwerfen, davon war Fiona überzeugt. Martine war in Französisch schon immer Klassenbeste gewesen, das hing mit dem Vater zusammen. Zweisprachig aufgewachsen oder so ähnlich. Als sie mit ihren Ausflügen begannen, waren die entscheidenden Schularbeiten fast alle vorbei. Und von Anfang an war klar, dass sie diese Klasse nur ein Jahr lang unterrichten würde, bis die Kollegin aus der Karenz zurückkam. Fiona verließ sich einfach darauf, dass niemand von ihren privaten Treffen erfuhr. Das passte eigentlich nicht zu ihr. Sie war eine Pedantin, auf ihren tadellosen Ruf bedacht und darauf, sich niemandem auszuliefern. Aber in
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