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Laessliche Todsuenden

Laessliche Todsuenden

Titel: Laessliche Todsuenden
Autoren: Eva Menasse
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noch nicht gewusst, dass es mit dem Geld so knapp werden würde. Und so schaukelte sie tagein, tagaus auf der Luftmatratze auf dem Meer, auf ihrem ›Wassergrill‹, und hielt sich mit der Hand an einer Boje fest, um nicht abzutreiben. Er saß derweil am Strand im Schatten, im langen Hemd, eine alberne Kappe auf dem Kopf, und las Freud. Die ganze Traumdeutung und dann noch alle Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Für andere Unternehmungen war es viel zu heiß. Wenn sie am mittleren Vormittag den Strand erreichten, kippte ihr schon fast der Kreislauf weg. Abends saßen sie vor dem Zelt im Staub und spielten Karten. Dreimal hatten sie miteinander geschlafen. Man begann sofort zu schwitzen und glitschte nur so aufeinander herum. Er war ihr erster Liebhaber, und zuerst hatten sie ein halbes Jahr lang alles andere gemacht, außer richtig. Alles andere hatte ihr sehr gefallen. Aber bei richtig, da spürte sie einfach nichts. Und zu dem Schweiß noch der Staub, auch im Zelt.
    Eigentlich war sie die ganzen drei Wochen nur wirren Träumen nachgehangen. Zuhause in der Stadt, da war dieser Arzt, bei dem sie in den Ferien aushalf, zweiundzwanzig Jahre älter als sie, der machte sie ganz unverhohlen an. Wenn sie daran dachte, war es, als würde in ihrem Bauch, gleich hinter dem Nabel, etwas herunterfallen. Wie beim Achterbahnfahren, nur fällt es da hinauf. Am Abend vor ihrer Abfahrt hatte der Arzt sie geküsst und wie wild an sich gepresst. Daran dachte sie häufig, und immer fiel dann das Ding hinter dem Nabel herunter. Fast immer. Ihr Vater hatte sie vor dem Arzt gewarnt. Un hommes à femmes , so höre man, aber sie hatte nur gelacht. Der alte Trottel, hatte sie gefragt, und ihr Vater hatte gelächelt. Es war so leicht, ihren Vater zu beruhigen. Er wollte beruhigt werden, deshalb.
    Wenn sie auf der Luftmatratze lag, machte sie sich klar, dass sie sich zum Arzt nichts weiter vorstellen konnte. Nur die prickelnde Erinnerung an den Abschiedskuss, aber keine Tagträume zur Zukunft. Sich auszumalen, dass sie mit dem Arzt dasselbe tun könnte wie mit ihrem Freund im Zelt, war unmöglich. Das wollte sie auch gar nicht, da war sie sicher.
    An Fiona dachte sie kaum, auf der Luftmatratze. Das war wie früher, als Kind zu Weihnachten, da hatte sie sich auch immer bemüht, möglichst gar nicht daran zu denken, denn sie hatte geglaubt, die Freude sei dann größer, reiner. Nicht wie ihr kleiner Bruder, der dauernd fragte, wann kommt endlich das Christkind, dabei hätte er doch wissen müssen, dass es irgendwann auf jeden Fall kommt. Wenn man weiß, dass etwas Schönes passieren wird, hält man vorher gedanklich die Luft an, sozusagen.
    So wie sie auch niemals, unter keinen Umständen, hinuntergeschaut hätte, während sie zur Gloriette hinaufstieg. Kein Blick zur Stadt hin, immer nur starr auf ihre Zehen. Und erst dann umdrehen, wenn man ganz oben war. Wenn der Höhenunterschied zum Ausgangspunkt am größten ist, ist es auch das Gefühl. Sie als Orpheus hätte nicht versagt, aber das behielt sie in der Schule für sich.
    Fiona hatte sie es einmal zu erklären versucht, nicht am Weg zur Gloriette, sondern im Auto auf der Höhenstraße. Fiona steuerte den Wagen ruhig durch eine Serpentine nach der anderen, Martine war hingerissen. Sie versuchte, Fiona nicht direkt anzuschauen, sondern nur aus dem Augenwinkel. Sie grübelte nach einer interessanten Bemerkung und entschloss sich dann, ihr geheimes Kinderspiel preiszugeben. Eigentlich war es kein Kinderspiel, sie machte es ja immer noch so. Aber das verschwieg sie. Während sie ihr Prinzip des Nicht-Hinunterschauens, des Vermeidens von Vorfreude beschrieb, hatte sie wieder das Gefühl, dass sie zu viel mit den Händen fuchtelte. Plötzlich kam ihr ihr T-Shirt, bestickt mit einem Pfau aus Pailletten, total peinlich vor, aber dazu war es jetzt zu spät. Fiona trug ein apfelgrünes Fred-Perry-Polohemd, zwei von drei Knöpfen geschlossen, bei jedem anderen wäre ihr das spießig vorgekommen. Martine warf einen Blick auf Fionas Profil. Sie schien zu lächeln. Erzähl weiter, sagte Fiona und tastete nach dem Traubenzucker, der neben der Handbremse lag. In einem Anfall von Übermut nahm ihr Martine den Traubenzucker weg und begann ihn aufzumachen. Sie erzählte weiter, fast hysterisch, mit viel zu großen Worten. Formulierungen wie stärkste Empfindung, verwässernde Zwischenstufen, Selbstbeherrschung der Augen und der Gefühle kollerten aus ihrem Mund, während das perforierte gelbe
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