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Sprich nicht darüber

Sprich nicht darüber

Titel: Sprich nicht darüber
Autoren: Graham Lynne
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1. KAPITEL
    R osies Herz pochte wie eine Trommel, als sie die Kirche betrat. Der Hauptansturm auf die vorderen Sitzplätze hatte sich gelegt, Rosie glitt in eine der hinteren Bänke. Von da aus konnte sie die Trauerfeier aus sicherer Entfernung verfolgen.
    Anton Estrada war in London eine bekannte Persönlichkeit gewesen. Dementsprechend war das dämmerige Kirchenschiff bis auf den letzten Platz besetzt.
    Ein schwarzer, goldbestickter Trauerschleier bedeckte Rosies Kopf, doch eigentlich war es ihr Kummer, der sie einhüllte wie eine dunkle Wolke. Seit sie denken konnte, war sie auf sich gestellt, nur für ein paar kurze Monate war Anton in ihr Leben getreten. Und nun war er gegangen, dieser warmherzige, humorvolle Mann. Er hatte ihr gesagt, sie sei das Glück, auf das er all die Jahre gewartet hatte, die Freude seines Lebens. Tränen standen in ihren grünen Augen, als sie auf den großen, kostbar gefassten Smaragd an ihrer Hand hinabsah, bis er vor ihrem Blick verschwamm. Wer wird mich nun lieben? dachte sie unglücklich. Würde überhaupt noch einmal jemand sie so lieben wie Anton?
    Wie durch ein Wattepolster drangen Stimmen gedämpft zu ihr. Dann wurde es still. Benommen sah Rosie auf und stellte fest, dass die Andacht vorüber und die Kirche fast leer war. Rosie hatte so gut wie nichts vom Gottesdienst mitbekommen. Verlegen stand sie auf und wollte schnell zum Ausgang. Dabei verfing sich ein Ende ihres Schleiers an der Banklehne. Ihr Kopf ruckte heftig zurück, sie stolperte.
    Unweigerlich wäre sie hingefallen, doch da spürte sie den Griff einer starken männlichen Hand auf ihrem Unterarm.
    “Ist Ihnen nicht gut?” Die Stimme klang tief und warm – und seltsam vertraut. Verwirrt schloss Rosie die Augen. “Sie sollten sich setzen.”
    “Nein.” Entschlossen richtete sie sich auf und schüttelte die fremde Hand ab. Da der Schleier noch immer festhing, gab es einen kleinen Ruck, und ihr üppiges dunkelrotes Haar ergoss sich über ihre Schultern. Zwangsläufig sah Rosie dem Mann in die Augen - und erstarrte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, ihre Haut wirkte wie weißer Marmor. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.
    Constantin Voulos starrte sie regungslos an. Offenbar war er ebenso verblüfft. Er sah tatsächlich umwerfend aus, noch besser als auf Antons Fotos, stellte Rosie unwillkürlich fest. Dieses dichte schwarze Haar, die vollen, sinnlichen Lippen. Und bei dem Blick in die dunklen, rätselhaften Augen wurde Rosie direkt ein bisschen schwindlig. Er hielt ihren Blick fest, das Gefühl war beängstigend und hypnotisch, als stünde sie am Rand einer Klippe und ließe sich einfach fallen … Die Luft blieb ihr weg, sie brachte kein Wort heraus. Die schiere Panik.
    “Wer sind Sie?” Constantins Stimme war belegt. Er machte den Schleier los, trat nah an Rosie heran und reichte ihn ihr.
    Rosie schluckte, mit zitternden Knien wich sie zurück. In ihr tobte ein Chaos von unbegreiflichen, unkontrollierbaren Gefühlen. Vor ihr stand Constantin Voulos, der Junge, den Anton und seine griechische Frau Thespina an Kindes statt großgezogen hatten. Aus dem Kind war ein Mann geworden.
    “Ihr Schleier …”
    Widerstrebend streckte Rosie die Hand aus. Das war ein Fehler. Constantin ergriff ihre schmalen, bebenden Finger.
    “Bitte …”, flüsterte Rosie. Sie wollte die Hand zurückziehen. Sie war völlig verspannt, fluchtbereit.
    “Christos!” stieß Constantin da überrascht aus. Er hatte den antiken Smaragdring an ihrem Finger bemerkt. “Woher haben Sie den Ring?”
    Vor Verblüffung lockerte er seinen Griff. Rosie machte sich frei, rannte aus der Kirche und die Stufen vorm Portal hinunter. Der Winterwind wühlte ihre Locken auf und bauschte den langen, weit geschnittenen schwarzen Mantel, sodass er aussah wie mächtige Flügel. Rosie stürmte durch die Grüppchen von verweilenden Trauergästen auf die verkehrsreiche Straße. Das Bremsenquietschen und wütende Hupen nahm sie nicht wahr.
    Zum letzten Mal ging Rosie durch die stillen Räume. Ohne Antons energiesprühende Gegenwart wirkte das hübsche kleine Haus wie eine leere Hülle. Rosie hatte alles entfernt, was an ihre Anwesenheit erinnern konnte. Gleich würde sie die Tür endgültig hinter sich schließen und in ihre Welt zurückkehren. Irgendwann in naher Zukunft wäre dieses Kapitel sowieso zu Ende gegangen, sagte sie sich.
    Rosie liebte ihre Freiheit, nur Anton zuliebe hatte sie sich eingeschränkt. Er hatte diskutiert, argumentiert, gedrängt und
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