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Kühlfach vier

Titel: Kühlfach vier
Autoren: Jutta Profijt
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Schnitt bis dahin, wo es wirklich
     nicht mehr weitergeht. Ich erwartete einen Schwall Blut, aber nichts geschah. Der Labersack kommentierte jeden Schnitt und
     jeden Befund in sein blödes Gerät, während ich in allerhöchster Aufregung über dem Obduktionstisch kreiste. Mir war schlecht.
     Lage um Lage wurde meine Haut abgeschält, das Fettgewebe darunter freigelegt, weggeklappt, ich kann mich an all die Details
     gar nicht mehr richtig erinnern, bis zu dem Punkt, wo die Sache anfing, wirklich eklig zu werden. Martin fasste mir an die
     Eier.
    »Hey, nimm deine Wichsgriffel von meinem Sack«, brüllte ich in höchster Not, und Martin fuhr herum, wobei er so stark zusammenzuckte,
     dass ich dachte, er schlitzt gleich seinen Kollegen auf. Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass er mich hören kann.

|24| ZWEI
    »Was ist?«, fragte der Typ mit dem Diktiergerät. Sein ganzes Gesicht konnte ich nicht sehen, weil die Schlitzer beim Zerlegen
     der Leichen diese lächerlichen Gesichtsmasken tragen, aber seine Augen waren ein bisschen größer geworden vor Schreck, als
     das Skalpell wenige Zentimeter vor seinem Bauch durch die Luft gezischt war.
    »Ich, äh, ich weiß nicht«, stammelte Martin und ich spürte seine Unsicherheit. Da konnten wir uns ja die Hand reichen, und
     außerdem war ich wirklich empört (auch so ein schönes Wort, das Martin mir wieder beigebracht hat), das können Sie sich ja
     vorstellen. Was würden Sie wohl sagen, wenn ein Perverser in einem grünen Kittelchen Sie erst kunstgerecht filetiert und Ihnen
     dann die Eier abschneiden will? – Eben.
    »Müssen wir die Hoden präparieren?«, fragte Martin, und es klang irgendwie kleinlaut.
    »Nö«, kam es hinter dem Mundschutz hervor und die Augen wurden schmal. Der Kerl grinste sich einen. »Das machen nur die Kolleginnen
     gern. Lass man, ist schon in Ordnung. Todesursache ist klar, oder?«
    |25| Martin nickte. »Todesursache ist zentrales Regulationsversagen, hervorgerufen durch den harten Aufprall des Hinterkopfs beim
     Sturz von der Brücke.«
    Der andere hob das Gerät wieder an den Mundschutz, sagte »Präparierung der Hoden nicht notwendig«, schaltete es ab und streckte
     sich. »Ich muss mal auf’s Klo.«
    Martin nickte. Er blieb bei mir, trat aber einen Schritt vom Tisch zurück und sah den Helferlein zu, die die Stückchen, die
     Martin aus meinen Organen herausgeschnitten hatte, in Einmachgläser legten. Damals konnte ich damit noch nichts anfangen,
     inzwischen weiß ich, dass von jedem Organ eine feingewebliche Probe genommen wird, die im Instituts-Slang »Histo-Probe« heißt.
     Kommt von histologisch, aber das muss man nicht wissen. Das Aufschneiden der Leiche ist auch nur ein Teil einer Obduktion.
     Außerdem gibt es noch die toxikologische und eventuell sogar eine genetische Untersuchung.
    Während meiner eigenen Obduktion jedenfalls glotzte ich einfach nur umher, verhielt mich aber ansonsten still. Martin wirkte
     auch unnatürlich still. Es war, als horche er angestrengt, wobei er sich nicht ganz sicher zu sein schien, ob er nach außen
     oder nach innen horchen sollte. Ich ließ ihn erst mal in Ruhe.
    Die Obduktion an meiner Leiche wurde vorschriftsmäßig und ohne weitere Störungen abgeschlossen, das Schlachthaus, wie ich
     den weiß gefliesten Raum nannte, wurde gereinigt und ich, also meine inzwischen ziemlich übel ausgeweidete, aber immerhin
     wieder mit allen entnommenen Organen vollgestopfte und zugenähte körperliche Hülle, kam zurück in mein Kühlfach mit der Nummer
     vier. Im letzten Moment, bevor die Schublade ganz geschlossen |26| wurde, entschloss ich mich anders, huschte aus dem letzten kleinen Schlitz heraus und begab mich in die Nähe der Deckenleuchte,
     von wo ich einen guten Überblick über den Raum hatte. Viel war nicht zu sehen, denn außer der Wand mit den Kühlfächern, in
     denen übrigens eine Temperatur von vier Grad Celsius herrscht, gab es nichts zu sehen. Eine Weile hing ich noch unentschlossen
     herum, dann wagte ich den Versuch, durch den schmalen Ritz der Schwingtür in den Flur zu gelangen. Bingo! Offenbar war inzwischen
     Feierabend hier unten, denn im ganzen Untergeschoss, das aus langen Fluren, dem Sektionssaal und wenigen Nebenräumen bestand,
     war keine Menschenseele. Bis auf mich, denn ich glaube, der Begriff »Menschenseele« trifft wohl auf niemanden so genau zu
     wie eben auf mich. Ich geisterte (auch ein Wort, das eine plötzliche Aktualität gewann) ziel- und planlos
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