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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt
Autoren: Michael Amon
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1. KAPITEL | Ein Toter fällt vom Himmel
    Es war völlig normal, dass dir an einem milden Herbstvormittag eine Leiche beinahe auf den Kopf fiel. Du musstest dafür gar nicht viel tun. Bloß nach dem Aufstehen keine Lust haben, dir ein Frühstück zu machen – Zähneputzen ist schließlich schlimm genug –, und gegen den guten Vorsatz von gestern doch wieder in dein Stammcafé gehen, eine Trinkschokolade und zwei Kipferln bestellen, in den internationalen Zeitungen blättern, den einen Gast oder die andere Bekannte begrüßen, das Wetter loben und auf die beschissene Regierung schimpfen. Du musstest also wirklich nichts tun, als einen ganz normalen Tag beginnen. Vier Stock zu Fuß hinunter, denn der Aufzug arbeitet um diese Tageszeit noch nicht, weil die Monteure vom Service noch nicht arbeiten. Dabei ist es schon 10 Uhr vorbei. Die Monteure von der Aufzugsfirma müssen die letzten Gewerkschaftsmitglieder im Land sein. Aber da du aus Gewohnheit und Tradition ja selber noch immer Gewerkschaftsbeiträge zahlst, obwohl du schon vor ewigen Zeiten der Lohnabhängigkeit entflohen bist, lächelst du milde. Wenigstens der Aufzug ist von der permanenten, sinnlosen Hektik der Globalisierung noch nicht ergriffen. Du gehst also zu Fuß die vier Stockwerke hinunter, und du weißt, dass du abends, allerdings mühsamer, wieder zu Fuß bergauf steigen wirst müssen. Denn die Monteure werden zwar inzwischen ihre gewerkschaftlich abgesicherte Arbeit erledigt haben, der Aufzug wird davon aber überhaupt nicht beeindruckt sein und kurz nach dem Abgang derMonteure seinen Dienst wieder einstellen. So wie beinahe täglich.
    Ein ganz normaler Tag also. Hinaus auf die Straße, um drei Ecken herum und durch zwei Gassen, und schon stehst du auf dem Stephansplatz, links das Erzbischöfliche Palais, rechts die scheußliche Gehsteigüberbauung aus den 1950er-Jahren. Du querst gemütlich den Platz, das heißt, du versuchst es. Wendest dich nach links, gehst zwischen Dom und Fiakerstandplatz Richtung Dombuchhandlung visàvis der Rückseite der Kirche. Oben ein strahlend blauer Himmel, unten der Gestank von Pferdepisse. Du richtest besorgt den Blick auf das Kopfsteinpflaster, bloß nicht in eine der stinkenden Lacken treten, Atem anhalten, die nächsten Schritte ein wenig schneller gehen, dann langsamer werden, tief einatmen. Die Gefahr von unten ist gebannt. Da naht ein Schatten von oben. Der Himmel scheint sich plötzlich zu verdunkeln, rechts von dir der Stephansdom, ein unheimliches Rauschen erfüllt die Luft, drei Meter vor dir klatscht etwas auf die Pflastersteine, mitten hinein in eine große Lacke Pferdeurin – und der Himmel wieder strahlend blau –, was dem Fleischklumpen, der vor dir auf dem Boden liegt, aber wohl egal sein wird. Dir nicht. Du siehst an dir hinunter, aber wie durch ein Wunder kein einziger Blutspritzer auf deiner Hose oder deinem Sakko. Auch vom Urin bist du verschont geblieben. Für einen normalen Tag war das ein heftiger Beginn. Sogar sehr heftig für den Beginn eines milden Herbstvormittags. Und noch heftiger für den, der da jetzt auf dem Pflaster lag. Der Kerl hätte dich treffen können. Skrupelloser Selbstmörder. Wer wird denn gleich an Mord denken? Du! Denn du stolperst ständig über Leichen. Tagaus, tagein. Hättest Totengräber werden sollen. Gut, auch ein Scheißberuf. Aber gewerkschaftlich gut organisiert. Dasgrößte Beerdigungsunternehmen der Stadt gehört der Stadt. In grauer Vorzeit gab es freien Wettbewerb. Da haben die Konkurrenten sich die Toten gegenseitig aus den Särgen gezerrt. Daraufhin hat man das Gewerbe kommunalisiert. Wegen der Würde. Jetzt ist es wieder privat und würdelos. Was heißt schon Würde, denkst du, der Tod ist die größte Verletzung der Menschenwürde. Aber die Städtische Bestattung ist noch immer sehr groß, konkurrenzlos groß. Konkurrenzlos würdevoll und gewerkschaftlich organisiert! Aber wer weiß, in ein paar Jahren wird man sich vielleicht wieder gegenseitig die Leichen aus den Särgen stehlen. Die Geschichte kennt keinen Fortschritt, ist vielleicht nur ein Ringelspiel, denkst du. Sie werden einander wieder wie einst die Leichen stehlen. Die gewerkschaftliche Organisation wird den Bach runtergehen. Dann fängt alles wieder von vorne an. Die Geschichte ist ein Ringelspiel.
    Dem Fleischklumpen vor dir auf dem Pflaster waren deine Gedanken völlig egal. Die Leute standen und gafften und staunten. Sah man ja nicht alle Tage. Mal was anderes. Nicht jeden Tag stürzte
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