Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt
Autoren: Michael Amon
Vom Netzwerk:
Es murmelt wieder von allen Seiten. Ein Pferd hebt den Schweif. Ein paar Schreie in der Menge, ein paar Leute springen zur Seite. Urin spritzt in alle Richtungen. Ein paar Hosenbeine werden benetzt. Du nicht, du behältst eine saubere Hose. Warum spricht man immer nur von sauberen Westen? Man sollte öfter mal auf die Hosenröhren schauen. Wäre nicht ganz uninteressant, denkst du. Die Weißkappe hat inzwischen das Mobiltelefon aus einer der Jackentaschen geholt und ist ungemein wichtig. Telefoniert mit einer Dienststelle, die auch ungemein wichtig ist. Dein Magen knurrt immer lauter. Wenn du hier verhungerst, wird der Tote auch nicht wieder lebendig. Wieso der Tote, wieso nicht die Tote? Dein Gehirn hat sich ohne dein Dazutun dafür entschieden, dass es eine männliche Leiche ist. Man kann nicht viel erkennen, aber der Körper ist in feines Tuch gehüllt, erstklassiger Anzug. Die eine Hand, die schräg und unnatürlich schroff vom Körper abgewinkelt in die Höhe ragt, schaut aus einem Anzugärmel heraus. Vier Knöpfe mit echtem Knopfloch, folglich ein Maßanzug. Als Kenner siehst du das sofort, registrierst es ganz automatisch. Frauen tragen so was normalerweise nicht. Der Polizist beugt sich zur Leiche hinab, als ob er sich von deren Leblosigkeit überzeugen wollte. Seine Hand fährt zur Halsader und zuckt zurück. Wahrscheinlich hat er die Sinnlosigkeit seines Tuns erkannt. Wenn einer aus ein paar dutzend Metern Höhe auf das Pflaster knallt, bewegen sich nur mehr die Fliegen, die nun nicht das Pferdeurin, sondern das wesentlich nahrhaftere Menschenblut umschwirren.
    Der Polizist richtet sich auf, strafft seine Gestalt und wird noch ein Stückchen größer: „Machen Sie hier keinen Auflauf. Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen.“
    Hat der eine Ahnung. Natürlich gibt es hier etwas zu sehen. Eine vornehme Leiche inmitten von Pferdeexkrementen. Da gibt es nicht nur etwas zu sehen, sondern auch zu riechen. Besser als Fernsehen, viel besser, solange die keinen Geruch übertragen. Das Murmeln der Menge wird lauter. Klingt nach Protest. Der Polizist schubst ein paar Leute weg, langsam gehen die anderen weiter, nicht ohne sich immer wieder zum Ort des Geschehens umzudrehen.
    Diesen traurigen Ort kannst du nur verlassen. Hier gibt es nichts mehr zu helfen, und in Kürze wird es von Amtsträgern mit und ohne Kappe nur so wimmeln. Abgang durch die Menge hindurch funktioniert nicht, also gegen jede Gewohnheit der Menge nach.
    Wieder einmal besonders zähe Kipferln. Und statt Trinkschokolade hat dir die neue Kellnerin – kleines Schwarzes mit weißem Schürzchen – einen kleinen Schwarzen serviert. Also saugst du statt des Dufts von Kakaobohnen den eines starken Moccas durch die Nase ein, die Aromen der Arabica-Bohnen sollen den aufdringlichen Geruch der Pferdepisse aus dem Flimmerepithel vertreiben. Das verlangt nach mehreren kräftigen Inhalationen. Man atmet ja nicht mit beiden Nasenlöchern gleichzeitig und gleich stark. Ein ziemlich komplizierter Regelvorgang steuert das Wechseln des Atemstroms von einem Nasenloch zum anderen. Während das eine Loch arbeitet, kann sich das andere ausruhen und erholen. „Nasalen Zyklus“ nennen das die Experten. Wenn beide Nasenlöcher sich ausruhen, dann hast du es hinter dir. Für immer. Das Bild des toten Körpers zuckt durch dein Gehirn. Ruhet wohl ihr Nasenlöcher.

2. KAPITEL | Eine Schlagzeile erscheint zu früh
    Man kann gegen die Boulevardpresse sagen, was man will, aber sie reagiert flott. Nicht immer richtig, aber flott. Das zählt. Den Rest kann man googeln. Das geht ebenfalls schnell, und das Ergebnis ist auch nicht immer richtig.
    Ich hatte inzwischen mein Nachmittagsfrühstück beendet und ging dann über den Graben auf die Tuchlauben, um ins Giacomos zu wechseln. Warum? Einfach so. Weil sich das um diese Tageszeit so gehört. Hier trifft man sich, sieht und wird gesehen. Hört das eine oder das andere.
    Auf dem Tresen lag schon die Abendausgabe vom „Blatt“. Mit großem Aufmacher: „Toter fällt vom Stephansturm“. Dazu ein Bild von der Leiche. Schön bunt. Welch ein Segen, dass vor ein paar Jahren auch in die Tageszeitungen die Farbe Einzug gehalten hatte. Die Rossäpfel waren jetzt nicht mehr schwarzgrauweiß, sondern richtig schön braun. Braune Scheiße. Und das passte manchmal ganz gut zum Inhalt.
    Ägidius Himmel aber war kein Brauner. Auch kein Blauer. Weder tiefblau noch himmelblau. Himmel war durch und durch rot, schillerte gleichsam in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher