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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt
Autoren: Michael Amon
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sattem Abendrot. Ein Roter vom alten Schlag, obwohl er noch nicht dreißig war. Lag vielleicht in der Familie. Die war immer schon rot gewesen, lange bevor es die Sozialdemokratie gab. Wahrscheinlich sogar schon vor Marx und Engels. Ägidius Himmel war Sensationsreporter beim Blatt. Der beste in der Redaktion, denn er hatte die besten Storys. Und manchmal, wenn er keine hatte, erfand er halt eine. Dann hieß es in der Redaktion: „DerHimmel lügt wieder einmal das Blaue vom Himmel herunter.“ Nicht umsonst nannte man ihn „sensazione“, die Sensation. Aber niemals hätte er gelogen, wenn es um die roten Grundfragen seiner roten Existenz ging. Niemals hätte er die Legende in die Welt gesetzt, sein Großvater sei zu Fuß zum Gründungsparteitag der Sozialdemokratie gewandert, er selbst sei mithin direkter Nachfahre eines Parteigründers und darum besonders kritikberechtigt. Ganz im Gegenteil. Himmel verschwieg, dass sein Urgroßvater mit einem gestohlenen Waffenrad, das allerdings erst ein paar Jahre später so heißen sollte, zum Parteitag geradelt war. Nur einmal hatte er im Vollrausch in wirren Worten und ganz ohne Absicht davon erzählt. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
    Jetzt ging es um die heutige Schlagzeile, und die war sicher nicht von Himmel. Der hätte sich niemals einen sprachlich so widersinnigen Aufmacher durchgehen lassen. Eine gut formulierte Lüge, ein Schmäh, wie man hierorts zu sagen pflegt, ein inhaltlich falscher Aufmacher, der die Leser veranlasste, den Straßenverkäufern Das Blatt aus ihren Umhängetaschen zu reißen, das ging in Ordnung. Aber die Sprache musste stimmen. Hier stimmte sie nicht. Wahrscheinlich waren sie in der Redaktion wieder einmal stockbesoffen gewesen, und ein Praktikant in prekärem Beschäftigungsverhältnis hatte den Schlussredakteur gemimt. Die Praktikanten waren nämlich immer nüchtern, denen blieb gar nichts anderes übrig. Sie waren nicht gewerkschaftlich organisiert, das war nicht vorgesehen. Sie standen in keinem Kollektivvertrag, folglich gab es sie nicht. Dafür konnten sie weder Deutsch noch denken. Denn erstens hieß es nicht Stephansturm, sondern Stephansdom. Zweitens konnte man davon ausgehen, dass kein Toter, sondern ein Lebender hinuntergefallen war,gestorben erst beim Aufprall. Dementsprechend schlecht war Himmel aufgelegt. Es war seine Story, aber nicht seine Schlagzeile. Wenn Himmel schlecht gelaunt war, hingen die Augenbrauen wie Gewitterwolken über seinem Gesicht, und aus seinen Augen schien es zu regnen. Ich winkte ihm vorsichtig zu, und er hob missmutig die linke Augenbraue ein paar Millimeter an, als ich beiläufig meinte: „Ganz schön schnell heute, die Schlagzeile.“
    Himmels Missmut war grenzenlos. Er zuckte mit den Schultern und schwieg.
    „Das Foto ist ein Fake“, sagte ich.
    Mit dieser Bemerkung hatte ich offenbar sein Interesse geweckt. Noch immer missmutig fragte er mich: „Wie kommst du auf die Idee?“
    „Ich war dabei. Der Typ ist genau vor mir aufgeschlagen. Zwei Schritte weiter, und er hätte mich erschlagen.“
    „Dein Glückstag“, murmelte Himmel.
    „Gott soll einen schützen vor solchen Glückstagen“, antwortete ich.
    „Frei nach Torberg“, grunzte Himmel und rollte eine kalte Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger.
    „Torberg hin, Torberg her. Das Bild ist gefälscht. Der Mann lag ganz anders am Pflaster. Und der Anzug stimmt auch nicht. Der Kerl hatte einen blauen Nadelstreifanzug an. Am Bild sieht man aber einen grauen Anzug mit Mini-Hahnentritt.“
    „Wenn du es sagst.“ Himmel holte tief Luft und seufzte: „Klar ist das gefaked. Die Leute sind so was von undiszipliniert. Keiner hält sich an Redaktionsschlüsse: Bankräuber, Mörder, Politiker – jeder tut, was er will. Der da ist um 16 Uhr vom Nordturm gepurzelt, jetzt ist es ein paar Minuten nachsechs. Das wäre sich nie und nimmer für die Abendausgabe ausgegangen.“
    „Und das heißt?“, fragte ich.
    „Saure-Gurken-Zeit. Heute war absolut nichts los. Nur dieses anonyme Schreiben, dass um 16 Uhr ein Mann vom Stephansdom fallen würde. Und das Bild dazu. Im Original sieht man, dass es eine Montage ist. Photoshopping, you know. Geht ja nicht anders. Oder glaubst du an Gott? Der kann vielleicht Bilder von der Zukunft machen. Ich nicht.“
    „Gott verzichtet aber offenbar darauf, sonst müsste er das ganze Universum, dieses unrettbare Experiment, längst eingepackt und irgendwo unerreichbar weggeschlossen haben“, sagte ich, ein wenig
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