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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt
Autoren: Michael Amon
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einer vom unvollendet gebliebenen Nordturm des Stephansdoms herab. Natürlich hast du wieder einmal ein wenig geschwindelt. Es ist nicht Vormittag, sondern Nachmittag, ungefähr 16 Uhr. Ein milder Herbstnachmittag. Du stehst immer so spät auf, es ist dir peinlich, das zuzugeben, na ja, nicht wirklich, aber doch irgendwie. Du bist schon zwei Stunden auf, hast deine neuen E-Mails durchgesehen, „black whore rides horse“, verdammte Spammer, die Hälfte der hereinkommenden Post ist so ein Pornozeug. Nicht einmal guter Porno, einfach nur Mist. Ab in den Junkmail-Ordner. Die wichtigen Mails beantworten, schnell die Schlagzeilen der Online-Zeitungen durchschauen, der Hungermeldet sich, und du gehst frühstücken. Sie heben immer zwei Kipferln für dich auf. Zwei altbackene Kipferln, die nur am Morgen ein oder zwei Stunden lang resch waren. Die zähen Nachmittagskipferln waren die Rache der disziplinierten Frühaufsteher an den in ihren Augen dem Schlendrian sich hingebenden Nachteulen.
    In Wahrheit funktioniert der Aufzug deshalb nicht, weil die Monteure schon wieder weg sind. Haben dich den halben Vormittag am Schlafen gehindert, wenn sie mit ihrem Werkzeug irgendwo herumgeklopft, gesägt, gehämmert, was zum Teufel auch immer gemacht haben. Lärm jedenfalls. Gewerkschaftlich gut organisierter Lärm. Hämmern gegen den Neoliberalismus. Dabei sind Hammer und Sichel so was von out. Einfach nicht mehr angesagt. Sagt man jedenfalls. Schreiben sie überall. Man wird sehen!
    Die Leiche hat solche Sorgen nicht mehr. Irgendwelche Sorgen musste sie aber gehabt haben, als sie noch keine Leiche war. Sonst wäre sie schließlich jetzt keine. Unabhängig davon, ob Mord oder Selbstmord. Man wird selten zum Spaß ermordet. Sage keiner, ein Mord komme einfach so, wie ein Blitz aus frühlingsblauem Himmel. Morde bahnen sich an, schleichen sich heran an Opfer und Täter. Du glaubst nicht an Mord im Affekt. Auch ein Selbstmord kündigt sich an. Man sieht es nur nicht. Keiner sieht das. Auch Morde sieht niemand vorher. Im Nachhinein hat man sie natürlich immer vorher gesehen. Nur am Vorhinein scheitert man. Auch du.
    Die Menschenmenge wird immer größer. Kein Wunder, mitten in der Fußgängerzone, mitten in der Stadt. Da sind auch so genug Leute. Haben alle nichts zu tun. Besser als jedes Fernsehprogramm ist das sowieso. Zumindest fast. Wer kann heute noch unterscheiden zwischen Reality-Fernsehen und Reality?Du schon, glaubst du jedenfalls. Manchmal hast du Zweifel. Vor allem wenn an einem Herbstmorgen, der ein Nachmittag ist, eine Leiche im Pferdeurin vor dir liegt und dein Magen unüberhörbar knurrt. Zum Glück heben sie die Kipferln für dich besonders lang auf. Auch wenn sie dadurch besonders zäh werden. Denn dir kommt regelmäßig was dazwischen, manchmal auch Leichen, und dann wird es später. Scheißleichen.
    Weit und breit keine Polizei. Eh klar. An einem milden Herbsttag haben die Besseres zu tun. Hübsche Touristinnen abmahnen, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Als ob die auf einen Polizisten gewartet hätten. Gut, im Urlaub schaut man nicht so genau hin. Aber die Uniform ist nicht zu übersehen. O.K., wenn man Uniformen mag. Soll es schließlich auch geben! Du verstehst das freilich nicht. Hast Uniformen nie gemocht. Jetzt schiebt sich eine weiße Kappe durch die Menge. Wie kann ein Polizist so hoch aufgeschossen sein? Lauter Köpfe, murmelnde Stimmen, Lautgewirr, und hoch über allem diese weiße Kappe, die langsam näherkommt. Einmal ein Vogerl sein und auf diese Weißkappen hinunterscheißen dürfen. Sehr langsam kommt die Kappe näher. Nur nichts übereilen. Amtsbonus. Der langsame Schritt strahlt Autorität aus. Die amorphe Masse öffnet sich und gibt eine kleine Gasse frei, durch die der Mützenträger majestätisch schreitet. Er blickt nicht nach links, nicht nach rechts. Er blickt scheinbar überhaupt nicht. Er geht nur und ist Polizist. Die Verkörperung des Rechts auf dem Stephansplatz. Hier und jetzt. Alles Recht geht vom Volk aus und direkt durch dieses Volk hindurch Richtung Leiche. Ein Vogerl müsste man sein. Die weiße Kappe schwebt näher, als wäre sie nur Kappe, brauchte den darunter befindlichen Träger nicht. Wird wohl so sein. Man ist zwar Amtsträger, abereigentlich trägt einen das Amt und nicht umgekehrt, wie die Bezeichnung unterstellt. Das Polizistsein trägt die Weißkappe zur Leiche. Der Mann hat den totalen Überblick, das merkt man gleich. Die Gasse hat sich hinter ihm wieder geschlossen.
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