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Maigret und die Tänzerin Arlette

Maigret und die Tänzerin Arlette

Titel: Maigret und die Tänzerin Arlette
Autoren: Georges Simenon
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    ERSTES KAPITEL
     
     
     
    Der Polizist Jussiaume, der bei seinem allnächtlichen Rundgang fast immer zur gleichen Minute an dieselbe Stelle kam, nahm das Kommen und Gehen der ihm vertrauten Passanten genauso mechanisch wahr, wie in der Nähe eines Bahnhofs wohnende Leute das Abfahren und Ankommen der Züge wahrnehmen.
    Es schneite und regnete, und Jussiaume hatte sich zum Schutz gegen die Nässe einen Augenblick in einen Hauseingang an der Ecke der Rue Fontaine und Rue Pigalle gestellt. Die Leuchtreklame vom Picratt war eine der wenigen im Viertel, die noch ihr rotes Licht erstrahlen ließ. Wie eine große Blutlache spiegelte es sich auf dem feuchten Pflaster.
    Es war Montag, der Tag, an dem es auf dem Montmartre immer ziemlich still ist. Jussiaume hätte genau sagen können, in welcher Reihenfolge die meisten der Lokale geschlossen hatten. Er sah, wie jetzt auch das Neonlicht am Picratt verlöschte und wie der kleine und korpulente Wirt, der sich einen Regenmantel über den Smoking gestreift hatte, herauskam, um die Läden herunterzulassen.
    Die schmale Gestalt eines Jungen schlich an den Hauswänden entlang und verschwand dann in der Rue Pigalle in Richtung zur Rue Blanche. Kurz darauf gingen zwei Männer, der eine mit einem Saxophonkoffer unterm Arm, zur Place Clichy hinauf.
    Fast unmittelbar hinter ihnen kam ein weiterer Mann, der sich den Mantelkragen hochgeschlagen hatte und der Kreuzung Saint Georges zustrebte.
    Der Polizist Jussiaume kannte zwar die Namen all dieser Leute nicht, ja kaum ihre Gesichter, aber genau wie Hunderte andere hatten sie eine Bedeutung für ihn.
    Er wußte, jetzt gleich würde auch eine Frau in einem sehr kurzen, hellen Pelzmantel und in Schuhen mit übertrieben hohen Absätzen aus dem Lokal herauskommen und dann schnell weitergehen, als hätte sie Angst, frühmorgens um vier allein auf der Straße zu sein. Bis zu dem Hause, in dem sie wohnte, waren es nur etwa hundert Schritte, und sie mußte dort läuten, weil zu dieser Stunde die Haustür verschlossen war. Schließlich kamen die beiden letzten Mädchen, wie immer zusammen. Sie unterhielten sich halblaut und gingen bis zur Straßenecke, wo sie sich trennten, kaum ein paar Meter von ihm entfernt. Die ältere und größere der beiden schleppte sich dann müde die Rue Pigalle bis zur Rue Lepic hinauf, wo er sie bisweilen in einem Hause verschwinden sah. Die andere dagegen, statt die Rue Notre-Dame-de-Lorette hinunterzugehen, wie sie es eigentlich mußte, zögerte einen Augenblick, als ob sie ihn ansprechen wollte, und ging dann auf die Kneipe an der Ecke der Rue de Douai zu, in der noch Licht brannte.
    Sie trug keinen Hut und wirkte ein wenig angetrunken. Im Schein einer Laterne schimmerte ihr hellblondes Haar wie Gold. Sie ging langsam und stockend und blieb hin und wieder stehen, als spräche sie mit sich selbst.
    Der Wirt der Kneipe fragte sie wie ein alter Bekannter: »Kaffee, Arlette?«
    »Kaffee mit Rum.«
    Und sofort verbreitete sich in dem Raum der Geruch heißgemachten Rums. An der Theke standen noch zwei oder drei Männer, die sie aber nicht beachtete. Der Wirt sagte später: »Sie machte einen sehr erschöpften Eindruck.«
    Wohl weil sie so abgespannt war, trank sie noch einen zweiten Kaffee mit Rum, diesmal sogar mit einer doppelten Portion, und es kostete sie sichtlich große Mühe, das Geld aus ihrer Handtasche zu fingern.
    »Gute Nacht.«
    »Gute Nacht.«
    Der Polizist sah sie wieder herauskommen, und ihr Gang war jetzt noch schwankender als vorher. Als sie dicht vor ihm stand, erkannte sie ihn und sagte:
    »Ich möchte auf dem Revier eine Meldung machen.«
    »Das können Sie«, antwortete er. »Sie wissen ja, wo es ist.«
    Es lag fast gegenüber, sozusagen hinter dem Picratt, in der Rue La Rochefoucauld. Sie konnten beide die blaue Laterne und die angelehnten Fahrräder der Polizeipatrouillen sehen.
    Er glaubte zuerst, sie würde gar nicht dorthin gehen.
    Aber dann überquerte sie doch die Straße und verschwand in dem Gebäude. Es war schon halb fünf, als sie das schlecht beleuchtete Büro betrat, wo nur Wachtmeister Simon und ein junger Polizist Dienst taten.
    Sie sagte wieder:
    »Ich möchte eine Meldung machen.«
    »Ich höre, mein Liebling«, erwiderte Simon, der seit zwanzig Jahren in diesem Viertel Dienst tat und an diese Sorte Mädchen gewöhnt war.
    Sie war stark geschminkt, aber das Make-up war ein wenig verschmiert. Unter ihrem imitierten Nerzmantel trug sie ein schwarzes Seidenkleid, und da sie nicht
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