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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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wissen.
    Theo hat nicht gelacht.
    Aber sie konnte nicht wissen, was er in diesem Moment dachte. Sie kannte das magere Theo-Gesicht nicht, sie musste erst noch lernen, wie es aussah bei Schrecken, Angst, Wut. Es war sehr weiß, dieses Gesicht, aber es war schon weiß gewesen, als er zur Tür hereingekommen ist. Woher hätte sie wissen können, was das bedeutete?
    Theo saß am Tisch, auf jedem Knie ein Kind, und aß Pellkartoffeln mit Hering. »Jetzt wird alles anders«, sagte er zu Gerda und stellte den Ludwig auf den Boden.
    Noch oft hat er später am Tisch gesessen und Pellkartoffeln gegessen, aber er hat nie mehr beide Kinder auf dem Schoß gehabt. Manchmal die Gerda, ganz selten den Ludwig.
    Frau Kronawitter sitzt am Fenster und weint. Sie schaut auf die Straße hinunter und das Licht der Laternen verschwimmt vor ihren Augen. Sie hätte das nicht annehmen dürfen, dass er so dagesessen hat, auf jedem Knie ein Kind. Sie hat doch gewusst, wie er war. Es ist ihr bequem gewesen, deshalb hat sie ihm gern geglaubt. Dankbar hat sie seine Lüge als Wahrheit genommen und gehofft, dass alles gut würde. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Sie hat den Theo doch gekannt. Alles, was er danach gesagt und getan hat, hätte sie vorher wissen können.
    Du sollst nicht ehebrechen.
    Du sollst nicht lügen. Schon der Name war eine Lüge. Theodor Kronawitter, Ludwig Kronawitter.
    Sie hätte das damals nicht hinnehmen dürfen. Das war ein Fehler. Sie hätte es anders machen müssen, sie ist ja noch jung genug gewesen. Ja, es ist passiert, hätte sie sagen müssen. Er ist genauso mein Kind wie Gerda.
    Vielleicht wäre dann alles anders geworden.
    Frau Kronawitter steht auf und geht ins Schlafzimmer. Als sie sich auszieht, ist sie erstaunt darüber, wie welk und schlaff ihr Körper ist. Die Runzeln und Falten sind ihr plötzlich ganz fremd. Dieser Körper ist anders als der, den sie nach jenem Abend mit Pellkartoffeln und Hering dem Theo gezeigt hat, einem mageren, fremden Theo mit unbekannten Gedanken.
    »Reden wir nicht mehr davon«, hat Theo danach gesagt. »Vergessen wir es.«
    Aber er hat es nicht vergessen.
    Und sie auch nicht.

23.
    Beim Sonntagsfrühstück fängt der Vater wieder von der neuen Wohnung an. »Wir müssen uns jetzt wirklich langsam drum kümmern, damit wir schon was wissen, wenn der Bausparvertrag fällig wird. Gebaut wird ja genug.«
    Herbert sitzt ganz still dabei. Er hat schlecht geschlafen in dieser Nacht. Er hat zum ersten Mal seit langer Zeit wieder von Fräulein Kaminski geträumt.
    »Ich bin froh, wenn wir endlich hier rauskommen«, sagt die Mutter. »In eine bessere Gegend, wo es sauber ist. Schon allein die Mülltonnen auf dem Hof, was man da für Krankheiten kriegen kann.«
    Fräulein Kaminski hat ihre Bluse aufgeknöpft. Und da hat Herbert die Kratzer auf ihrer Haut gesehen. Sie hat ganz freundlich gelächelt und gesagt: Messerspuren. Herbert hat Angst gehabt und wollte wegrennen. Aber sie hat seine Hand genommen und auf die Kratzer gelegt: Fühl mal.
    Herbert spürt noch jetzt, wie er im Traum gezittert hat. Wenn nur die Eltern nichts merken. Er bricht ein Stück vom Marmorkuchen ab und steckt es in den Mund.
    Die Mutter legt ihm ein zweites Stück auf den Teller. »Du musst mehr essen«, sagt sie. »Jetzt, wo du so wächst.«
    »Es ist auch Zeit, dass er endlich wächst«, sagt der Vater. Er spricht mit vollem Mund. Herbert würde dafür eine Ohrfeige bekommen.
    Die Mutter steht auf und holt die Kaffeekanne, die zum Warmhalten auf dem Herd steht. Herbert schaut nicht hoch. Er spült den trockenen Kuchen mit Milchkaffee runter. Wenn er nur das Fräulein Kaminski vergessen könnte.
    Sein Vater schaut ihn an. »Hast du was?«
    Herbert schüttelt den Kopf.
    »Das kommt vom Wachsen«, sagt die Mutter. »Da werden alle so blass. Und immer nur in der Stadt. Wart nur, bis wir erst weiter draußen wohnen. Dann wird er auch Farbe bekommen. Das ist nichts für ein Kind, immer nur in der Stadt.«
    Herbert schiebt Fräulein Kaminski aus seinen Gedanken. »Was ist eigentlich mit der Schule, wenn wir umziehen?«, fragt er.
    »Wer weiß, wie lang das noch dauert, bis es so weit ist«, sagt der Vater. »Aber wenn es wirklich vorher klappt, dann musst du halt im letzten Jahr in eine andere Schule gehen.«
    Die Mutter legt Herbert die Hand auf den Arm. »Du wirst sehen, dass du froh bist, wenn du in eine andere Schule kommst. Da wirst du ganz andere Kinder kennen lernen als hier, saubere, ordentliche. In den neuen
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