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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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sie kann nicht richtig essen. Wastl bekommt anderthalb Schnitzel und ist dann satt und faul.
    Sie hält keinen Mittagsschlaf an diesem Sonntag. Sie sitzt am Fenster und wartet. Und jedes Mal, wenn ihr die Augen zufallen wollen und ihr Kopf nach vorn nickt, reißt sie ihn wieder hoch. Ich muss wach sein. Ich darf jetzt nicht schlafen. Ich muss wach sein, wenn der Junge kommt.
    Dann sieht sie ihn auf der Straße. Er ist sehr blass, noch blasser als sonst. Er steht auf der anderen Seite und schaut das Haus an. Er kann sie nicht sehen hinter der weißen Mullgardine. Es kommt ihr unanständig vor, dass sie ihn beobachten kann, ohne dass er das weiß. Ich sollte nicht hinschauen, denkt sie.
    Sie kann sein Gesicht nicht deutlich erkennen. Ihre Augen sind wirklich schlechter geworden, sie sollte zum Augenarzt gehen. Erst als er den Kopf bewegt und das Gold aufblitzt, sieht sie, dass er die Brille aufhat. Ein armes Kind. Ein geducktes Kind. Ihr schießen Tränen in die Augen. Sie wischt und wischt und hat das Gefühl, dass sie seinen Jammer kennt, hat zum ersten Mal in ihrem Leben das Gefühl, jemanden zu verstehen, zu wissen, wie alles läuft, zu wissen, wie alles kommt, und zu wissen, wie alles sein sollte.
    Als sie aufhört zu wischen, ist der Junge weg.
    Sie steht langsam auf, zittrig, geht zur Tür, ist schon dort, als die Klingel ertönt. »Komm rein, Junge«, sagt sie. »Komm rein.«
    Er steht da, kaum größer als sie, ein armseliges Kind, und sie würde ihn am liebsten in die Arme nehmen und streicheln, so nah fühlt sie sich ihm, so verwandt. Seine Augen sind klein hinter dieser Brille, lächerlich klein und weit aufgerissen sehen sie aus.
    Sie stehen sich gegenüber in dem engen Flur und sehen sich an. Frau Kronawitter sieht die Angst. Sie versteht die Angst. Ist doch alles nicht so schlimm, will sie sagen. Ist doch nur ein Auto, will sie sagen.
    Aber die Worte bleiben ihr im Hals stecken. Sie streckt die Hand aus und berührt sein Gesicht. »Ich will dir helfen, Junge«, sagt sie.

25.
    Herbert rennt in den Keller und lehnt sich an die Bretterverkleidung. Mit beiden Händen umfasst er die Holzstäbe, bis die harten, ungehobelten Kanten in sein Fleisch schneiden. Der Schmerz bringt ihn wieder zu sich.
    »Du warst das«, hat die Alte gesagt. »Ich habe dich gesehen«, hat sie gesagt. »Komm zu mir«, hat sie gesagt.
    Er braucht lange, bis er das wirklich versteht. Und dann kriecht die Angst durch seinen Körper und macht ihn zittern.
    Ich muss mich zusammennehmen, denkt er. Niemand darf etwas merken. Ich muss raufgehen und sagen, ja, ich habe die Tante Friedel angerufen. Ja, sie kommt um vier Uhr zum Kaffeetrinken, ja, sie bringt die Unterlagen von ihrem Bausparvertrag mit. Ja. Ja. Ja.
    Er steigt die Treppe hoch. Unendlich viele Stufen scheinen es zu sein. Dabei weiß er, dass es sechsundsechzig sind, vom Keller bis zum dritten Stock. Er weiß das von früher, er hat sie schon oft gezählt. Heute kann er nicht zählen. An der Tür von der alten Kronawitter bleibt er einen Moment stehen, streckt die Hand aus, berührt den Klingelknopf.
    Nein, jetzt noch nicht. Er muss erst nachdenken.
    »Ja«, sagt er oben zu seiner Mutter. »Ich habe Tante Friedel angerufen und alles gesagt. Ja, sie bringt die Sachen mit. Um vier Uhr.«
    »Du bist blass«, sagt die Mutter. »Dass du ja nicht krank wirst. Ich habe keinen Urlaub mehr zu kriegen in diesem Jahr.«
    Zum Mittagessen gibt es Rindsrouladen mit Kartoffelbrei und Kraut. Er isst Rindsrouladen eigentlich besonders gern, aber heute kaut er auf ihnen herum wie auf Stroh. »Ich habe keinen Hunger«, sagt er.
    »Du isst deinen Teller leer.«
    Die Mutter legt dem Vater die Hand auf den Arm. »Lass ihn. Schau mal, wie er aussieht. Wenn er nur nicht krank wird.«
    »Na ja«, sagt der Vater. »Wenn du meinst.«
    Herbert schiebt die Rouladenstücke in den Mund. Der Geschmack der gebratenen Speckstücke in der Füllung zieht seine Backenmuskeln zusammen, aber er kaut und schluckt, isst Kartoffelbrei nach, der Kartoffelbrei wickelt den Fettgeschmack ein und lässt alles leichter die Kehle hinunterrutschen.
    »Du musst nicht aufessen, wenn dir schlecht ist«, sagt die Mutter. »Wirklich nicht. Ich seh doch, dass du krank wirst. Dabei habe ich keinen Tag Urlaub mehr gut.«
    Aber Herbert kaut und schluckt, kaut wieder, schluckt wieder. Es ist ihm recht, dass er sich jetzt anstrengen muss. Schlimm ist es erst nach dem Essen, als er fertig ist und wartet, bis auch der Vater das Besteck aus der
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