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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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fünfhundert Mark allein bezahlen.
    »Dieses Rindvieh hat mich doch gesehen«, sagt er. »Er hat doch gesehen, dass ich losfahren will. Da lässt man einen doch vorbei. Aber nein, der fährt stur weiter, weicht keinen Zentimeter aus. Und fühlt sich auch noch im Recht. Streng nach Verkehrsordnung bin ich gefahren, hat er zum Polizisten gesagt. Verkehrsordnung, wenn ich das schon höre! Verstand braucht man zum Fahren. Aufpassen muss man. Was meinst du, wie oft ich für andere aufpasse, und jetzt das. Fünfhundert Mark. Das ist über eine Woche, die ich umsonst arbeiten muss. Nur weil der Kerl so blöd ist.«
    »Kostet denn die Tür so viel?«, fragt die Mutter.
    »Es ist auch noch der Kotflügel.«
    »Ach Gott«, sagt die Mutter. »Fünfhundert Mark.«
    »Ich werd halt Überstunden machen. So ein Idiot, so ein dämlicher. Die meisten Autofahrer sind Idioten.«
    Herbert versucht, den Fettrand vom aufgewärmten Schweinebauch unauffällig in die Soßenschüssel zurückzulegen.
    »Stell dich nicht so an!«, schreit der Vater. »Du isst, was auf den Tisch kommt.«
    Er hat die Hand schon gehoben, lässt sie aber fallen, als Herbert schnell das Stück in den Mund schiebt, würgt, schluckt.
    Herbert denkt an die zerkratzten Autos, als er das Wabbelfett schluckt, und muss ein Lächeln unterdrücken. So wie der Vater werden heute noch andere Männer schimpfen.
    Der Vater sieht, wie Herbert isst, sieht das halbe Lächeln. »Na also«, sagt er. »Es ist doch nicht so schlimm.« Er merkt nicht, wie Herbert das Messer umklammert, so fest, dass seine Knöchel weiß aus dem Handrücken treten. Es ist nur das Besteckmesser.
    Heute fährt Herbert nicht mit dem Fahrrad herum. Er geht zu Fuß, streunt durch die Straßen. Er hat die Einkaufstasche mitgenommen, um nicht aufzufallen. Im Supermarkt am Berliner Platz bleibt er lang, hofft, lauscht, lässt am Fleischstand bereitwillig alle vor, aber er hört nichts.
    »Was«, sagt der Barmann zu dem Fremden, »Sie wissen nicht, wer Butch ist? Sie haben noch nie von ihm gehört? Nun ja, gesehen habe ich ihn auch noch nicht, ich weiß nicht, wie er aussieht. Er lässt sich nicht erwischen, er ist schneller und besser als alle anderen. Listig wie ein Fuchs ist er, der schnellste Reiter und der beste Schütze.«
    Der Fremde schiebt seinen Hut aus der Stirn. »Also einen Doppelten für mich. Und für Sie auch.« Er kippt den Whisky hinunter und verlässt das Lokal. Draußen schwingt er sich auf sein Pferd und reitet lachend zurück in die Berge, die wild und schön vor ihm aufragen. Butch, der schnellste Reiter, der beste Schütze.
    Es ist schon fast dunkel, als Herbert nach Hause geht. Es wird jetzt jeden Abend früher dunkel. Er geht nicht durch die Breslauer Straße, das traut er sich heute nicht. Er macht lieber den Umweg über den Altstadtring.
    Die Mutter ist noch nicht da. Er lässt Wasser ins Spülbecken einlaufen. Heißes Wasser. Letzten Winter erst hat der Vater diesen Durchlauferhitzer gekauft. Die Mutter wird sich freuen, wenn das Geschirr gespült und die Küche gemacht ist und sie nicht erst damit anfangen muss, wenn sie aus dem Geschäft nach Hause kommt. Fünfhundert Mark ist viel Geld. Seine Mutter verdient nicht sehr viel mehr in einem ganzen Monat. Achthundertachtundsechzig Mark bekommt sie. Es hat was mit der Steuerklasse zu tun, dass es so wenig ist. Und außerdem ist sie eine ungelernte Kraft, sagt sie, da kann sie nicht mehr verlangen.
    Herbert trocknet die Teller und das Besteck ab und räumt alles in den Schrank. Mädchenarbeit, Frauenarbeit.
    »Ich brauch daheim nie zu helfen. Das machen meine Mutter und meine Schwester«, hat Ulrich gesagt. »Mein Vater und ich brauchen nichts zu tun.«
    Früher hat Herbert sich auch einen Bruder oder eine Schwester gewünscht. Ein Bruder wäre ihm lieber gewesen, das schon, aber im Grunde wäre ihm alles recht gewesen. Doch die Mutter hat abgewehrt.
    »Ein Kind langt mir. Das macht genug Arbeit. Ich brauche wirklich kein zweites.«
    Der Vater hat gelacht. »Du bist auch nicht geplant gewesen«, hat er zu Herbert gesagt.
    Vaters Bierglas, das er gerade abtrocknet, rutscht Herbert aus der Hand und zerspringt auf dem Fußboden. Beim Aufsammeln der Glasscherben schneidet er sich und sein Zeigefinger blutet. Ihm wird schlecht, als er die dunklen Tropfen auf dem Boden sieht. Trotzdem tippt er mit der Fingerspitze hinein und zieht rote Streifen über den sandfarbenen Stragulabelag.
    Da geht die Tür auf und die Mutter kommt herein.
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