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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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»Herbert«, sagt sie, während sie die restlichen Glasscherben zusammenfegt und das Blut aufwischt, »manchmal glaube ich, du bist nicht ganz richtig im Kopf.«
    Herbert steht an den Tisch gelehnt und schaut zu. Er würde jetzt am liebsten weggehen, die Tür hinter sich zumachen, allein sein, vergessen. Er kann jetzt nichts sagen, sich auch nicht entschuldigen. Er möchte wirklich nur weggehen. Aber er weiß, dass die Mutter das nicht zulässt, solange sie vor ihm auf dem Boden kniet und wischt. Er muss stehen bleiben und dem Jammern zuhören.
    »Ich weiß auch nicht, da komm ich heim, müde von der Arbeit, und du sitzt auf dem Fußboden und malst mit deinem eigenen Blut.« So wie sie es ausspricht, mit der Betonung auf »eigenen« und das »u« in Blut ganz lang und dunkel, wird ihm übel und er muss wegschauen.
    Und als er viel später im Bett liegt und daran denkt, gehört es schon zu den peinlichen Erinnerungen, die er schnell wegschiebt, wenn sie auftauchen. Wie das Bettnässen.
    Er hat lange nachts ins Bett gepinkelt, mindestens bis er neun oder zehn Jahre alt gewesen ist. Jeden Abend hat er dagelegen und an das Schimpfen und die Schläge gedacht. Er ist so lang wach geblieben, wie er konnte, ist immer wieder aufs Klo gegangen, damit ja keine Flüssigkeit mehr drin blieb in seiner Blase. Irgendwann ist er dann aber doch eingeschlafen. Und beim Aufwachen hat er schon gewusst, dass es wieder passiert war, hat gefühlt, wie seine Schlafanzughose an ihm gepappt hat und wie sich beim Aufsetzen das nasse Betttuch über der Gummieinlage verschoben hat. Er hat nur noch seine Schlafanzughose ausziehen und sich auf einer trockenen Stelle des Betttuchs zusammenrollen können. Und warten. Warten, bis die Mutter gekommen ist.
    Herbert dreht sich auf die Seite, zieht das Messer unter dem Kopfkissen hervor. Die Erinnerung an das klatschende Geräusch erregt ihn, eine Hand auf seinem nackten Hintern. Einmal möchte er das auch sehen, möchte auch dieses neugierige Entsetzen in seinem Gesicht spüren. Wie damals die beiden Mädchen in Italien.
    Nackte Hintern. Die flache Hand klatscht auf dem nackten Hintern, der Lederriemen pfeift und der Kochlöffel klingt ganz dumpf.

22.
    Frau Kronawitter geht mit Wastl um den Block. Es regnet. Feine Fäden fallen schräg gegen das Straßenlicht. Sie zieht ihren Mantel fester um sich und hält den Kopf gesenkt. Die Regenschnüre trommeln auf ihre Plastikhaube und sammeln sich zu kleinen Bächen, die an ihrem Mantel herunterlaufen.
    Mairegen bringt Segen.
    Das hat die Oma immer gesagt. Die Oma auf dem Land.
    Hannerl lief durch den Regen, klatschnass war es schon. Das Wasser quatschte laut in den abgetragenen Lederschuhen, aber Hannerl lief und lief, hielt das Gesicht zu den Wolken hin, öffnete den Mund, sammelte das Wasser, wartete, bis sie den leichten Druck auf dem Gaumenzäpfchen spürte, und schluckte.
    Vom Regen wächst man.
    Mairegen bringt Segen.
    April, April, er macht, was er will.
    Im April musst du im Regen laufen, dann wirst du groß und stark.
    Der Märzregen macht dich gesund für das ganze Jahr.
    Hannerl, klein für ihr Alter, lief im Regen, ließ sich durchweichen, bis ihr Bäche von den Zöpfen rannen, glaubte an die Kraft des Regens. Alles Gute kommt von oben.
    Dann lief sie zurück, zu Oma in die Küche, ließ sich abtrocknen, frisch anziehen, trank heiße Milch. Der Opa saß am Tisch und lachte.
    »Vielleicht wird doch noch was Rechtes aus unserem Stadtkind«, sagt er.
    Schön ist das gewesen, nach dem Regen in der niedrigen Küche zu sitzen und heiße Milch zu trinken. Gewachsen ist sie zwar nicht viel, aber gesund ist sie geworden in diesem Sommer, in dem sie bei Oma und Opa gewohnt hat, aufs Land geschickt, weil sie im Winter vorher dauernd krank gewesen ist.
    Was macht der Novemberregen?
    Es wird lange dauern, bis der Frühling kommt.
    Sie friert. Sie ruft Wastl und hängt ihn an die Leine. »Los, komm schon. Du hast genug gepinkelt.«
    Zu Hause trocknet sie ihn mit einem Handtuch ab. Er schüttelt sich und legt sich auf seine Decke. Er zittert. Sie nimmt ein weiches Kissen und deckt ihn zu.
    Als Kind hat sie heiße Milch getrunken. Jetzt macht sie sich einen Glühwein und setzt sich damit in den Sessel am Fenster. Es ist fast dunkel im Zimmer, nur aus der offenen Tür zum Flur fällt Licht.
    Sie hat noch nie so viel an früher gedacht wie in der letzten Zeit. Die Vergangenheit ist zu ihrer Gegenwart geworden. Alte Leute leben in der Vergangenheit, denkt sie. So ist
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