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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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nicht in die Schule. Wenn das geklaut wird. So ein teures Rad.«
    Die anderen in der Klasse haben fast alle Räder, tolle, plakettengeschmückte Räder. Morgens kurven sie, obwohl das verboten ist, in den Schulhof und demonstrieren ihre Geschicklichkeit, besonders wenn Mädchen zuschauen.
    »Warum habt ihr mir ein Rad gekauft, wenn ich damit nicht in die Schule fahren darf?«
    »Mittags«, hat der Vater gesagt, »wenn du deine Aufgaben gemacht hast. Dann kannst du von mir aus fahren, so viel du willst. Aber in der Schule könnte es zu leicht geklaut werden.«
    Die Mutter hat genickt. »Außerdem ist die Schule so nah, die paar Minuten kannst du auch wirklich zu Fuß gehen.«
    Herbert, der fügsame Sohn, der brave Sohn, geht weiter zu Fuß in die Schule und das Fahrrad steht im Keller.
    Herbert merkt jetzt ganz genau, dass es nichts mehr wird mit dem Schlafen. Er kann an nichts anderes mehr denken als an den Tag, der vor ihm liegt. Natürlich wird er sich zwei Banjos kaufen, vor der Schule, das tut er immer, und dann wird er aufrecht und furchtlos an den anderen vorbeigehen. Er wird ihnen zeigen, dass sie ihm egal sind, dass sie ihm nichts anhaben können, weil er ruhig und besonnen ist. Herbert spannt den linken Arm an und tastet über seine Muskeln. So schwach ist er wirklich nicht. Wenn die anderen nur nicht so blöd wären. So blöd und so laut. Herbert kann Krach nicht ausstehen, er tut ihm richtig weh.
    Ich werde nicht hinhören heute, denkt er. Ich werde den Lärm heute einfach überhören. Ich werde das können, irgendwie. Heute kann ich das, bestimmt.
    Er sieht sich durch das Schulhaus gehen, aufrecht, mit erhobenem Kopf, sieht sich Klaus direkt ins Gesicht schauen, ganz ohne Angst, und Klaus wird auf ihn zukommen und sagen: Es tut mir Leid, Herbert, dass ich dich geärgert habe. Allen tut es Leid. Wir werden es nicht mehr tun. Wir sehen ein, dass wir einen Fehler gemacht haben. Ab heute wird das alles anders.
    Klaus wird seine Hand ausstrecken und Herbert wird sie ergreifen. Ist schon gut, Klaus, wird er sagen. Reden wir nicht mehr drüber. Es ist alles in Ordnung.
    Herbert nimmt das Kopfkissen und wühlt sein brennendes Gesicht in das kühle Tuch. So wird es nicht sein. So wird es nie sein.
    Es wird ein Tag sein wie jeder andere. Er wird sich bemühen, unauffällig durch das Klassenzimmer zu gehen, und wird über das erste Bein stolpern, das ihm gestellt wird. Er wird versuchen, freundlich und hilfsbereit zu seiner Mutter zu sein. Aber es wird nichts nützen. Sicher wird ihm der volle Mülleimer aus der Hand fallen und die Eierschalen werden mit dem Kaffeesatz und den Zigarettenkippen über den Küchenfußboden rutschen. Trottel, wird die Mutter sagen. Kannst du nicht besser aufpassen?
    Es wird kein besonderer Tag werden. Es gibt keine besonderen Tage. Es gibt keine Wunder. Wer auf Wunder wartet, ist blöd. Nur alte Weiber warten auf Wunder.
    Herbert schläft doch wieder ein. Noch eine Stunde träumen, dann fängt der Tag an.

2.
    Frau Kronawitter öffnet die Haustür und tritt auf die Straße. Die Kälte schlägt ihr ins Gesicht und nimmt ihr fast den Atem. Sie muss husten, dieses schmerzende Husten, das sie jetzt oft hat, seit es so nasskalt geworden ist. Sie versucht es zu unterdrücken, atmet nur ganz flach, aber ihre Bronchien krampfen sich zusammen. Es tut weh. Sie keucht vor Anstrengung und lehnt sich einen Moment an die Hauswand von Nummer einundneunzig. Endlich wird es besser. Sie verträgt dieses Wetter nicht, es bedrückt sie, macht sie müde, bevor der Tag richtig angefangen hat.
    Der Hund zieht und zerrt an der Leine und strebt der nächsten Hausecke zu, der Stelle, an der er immer sein Bein hebt, jeden Morgen an derselben Stelle. Von den Häuserblocks sind in dem bleigrauen Morgenlicht nur die Umrisse zu sehen, mit feinen hellen Streifen von den Ritzen der Fensterläden. Das Licht der Straßenlaternen verschwimmt wie hinter Milchglasscheiben, graue Ballons vor dunklen Mauern. Und dazu diese feuchte Kälte. Frau Kronawitter zieht den Schal fester um sich. Mit der einen Hand drückt sie ihre Handtasche an sich, aus braunem Kunstleder ist sie und hat neunzehn Mark achtzig gekostet beim Oberpollinger im Sommerschlussverkauf, mit der anderen Hand zieht sie die Leine hinter sich her.
    »Los, Wastl, jetzt komm endlich.«
    Richtig lästig ist so ein Hund. Frau Kronawitter ist froh, dass sie nicht weit gehen muss zum Laden. Sie spürt das feuchte Wetter auch in den Beinen. Das Rheumatische ist das, es
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