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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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Hand legt. Da taucht das Gesicht von der alten Kronawitter vor ihm auf. »Du warst das mit dem roten Auto. Ich habe dich gesehen.«
    Seine Gedanken überschlagen sich. Er weiß nicht, wo er anfangen soll zu denken. »Ich gehe ein bisschen raus«, sagt er. »Ich brauche frische Luft.«
    »Ja, tu das. Das wird dir gut tun. Die Sonne kommt raus. Aber zieh deinen Mantel an.«
    Er zieht seinen Mantel an. Er geht die Treppe hinunter, vorbei an dem Schild Kronawitter. Erst muss er noch nachdenken, bevor er zu ihr geht. Er muss wissen, was er sagen wird, er muss einen Plan haben.
    Sein Kopf ist ganz leer. Er geht bis zum Berliner Platz und wieder zurück. Er steht auf der anderen Straßenseite und schaut das Haus an. Er hat keinen Plan. Sein Kopf funktioniert heute nicht.
    Bitte, verraten Sie mich nicht, wird er sagen, weil ihm nichts anderes einfällt.
    Mein Vater schlägt mich tot, wird er sagen, weil er für seine Angst keine anderen Worte findet.
    Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe, wird er sagen, weil er es nicht wissen will.
    Bitte verraten Sie mich nicht. Ich will auch alles machen, was Sie sagen. Nur verraten Sie mich nicht.
    Hinter ihrem Fenster sieht er einen Schatten. Er unterdrückt die Wut, die in ihm aufsteigt. Wut darüber, dass eine alte, hässliche Frau die Macht hat, ihn so in Angst zu versetzen. Und auch Wut darüber, dass er es nicht mehr machen kann. Dass sie ihm das heimliche Vergnügen weggenommen hat.
    Unterwürfig muss er sein, seinen Hass und seine Wut hinter demütigen Blicken verbergen. Wie ein Hund muss er vor ihr kriechen.
    Ich werde alles tun, was Sie wollen. Nur verraten Sie mich nicht. Alles tu ich, alles. Ich bring Ihnen jeden Tag den Mülleimer runter. Ich putze für Sie die Wohnung. Sogar Ihren widerlichen Köter führe ich spazieren, wenn Sie wollen. Ich gebe Ihnen mein ganzes Taschengeld, zwanzig Mark im Monat. Und die eine Mark fünfzig für die Schulbrotzeit auch. Eine Mark fünfzig am Tag macht noch mal dreißig Mark im Monat. Das sind zusammen fünfzig Mark. Ist das nichts? Er klingelt.
    Sie macht sofort die Tür auf. Sie muss hinter der Tür gewartet haben.
    »Komm rein, Junge«, sagt sie. »Komm rein.«
    Sie hat eine zittrige Altweiberstimme. Der Köter steht daneben und wedelt mit dem Schwanz. Sie stehen im Flur. Es ist dämmrig, er kann ihr Gesicht kaum sehen.
    Sie streckt die Hand aus, sagt etwas, sie berührt sein Gesicht.
    Diese Hände auf seiner Haut. Er versteht nicht, was sie sagt, ihre Worte zerfallen in sinnlose Laute, er versteht nichts, er fühlt nur diese Finger auf seiner Haut.
    Er möchte schreien, fassen Sie mich um Gottes willen nicht an, alles, nur das nicht, Anfassen gilt nicht, das dürfen Sie nicht, das darf niemand, aber er bringt keinen Ton heraus. Alles verschwimmt vor seinen Augen. Nicht berühren, nein, nicht berühren.
    Er fühlt das Messer in seiner Tasche, nimmt es heraus. Das Klicken, als es einschnappt, ist das einzige Geräusch, das er wahrnimmt. Was sagt die Alte? Wortfetzen, nichts als Wortfetzen.
    Dann sticht er zu.
    Aus der Lokalzeitung:
    Jugendlicher ersticht alte Frau
    Die neunundsechzigjährige Ladenbesitzerin Johanna K. wurde am 16. November erstochen in ihrer Wohnung aufgefunden. Die durch das Heulen ihres Hundes herbeigerufenen Nachbarn fanden den vierzehnjährigen Herbert H. mit einem blutigen Messer neben der Leiche.
    Bisher ist nicht bekannt, was Herbert H., der im selben Haus wie die Ermordete wohnt, zu dieser Tat veranlasst haben könnte. Ein Raubmord scheidet nach Angabe der Polizei aus. Die Wohnung war unberührt.
    Herbert H. ist festgenommen und in die Krankenabteilung der Jugendstrafanstalt Stadelheim überführt worden. Er soll in den nächsten Tagen auf seinen Geisteszustand untersucht werden.
    »Stocksteif hat er dagestanden und nichts gesagt. Weiß wie die Wand war er«, sagte Herr Sedlmeyer, der die Tür aufgebrochen hat, zu unserem Reporter.
    Den fassungslosen Eltern ist die Tat ihres Sohnes unbegreiflich: »Er hat doch alles gehabt. Es hat ihm doch an nichts gefehlt. Wir haben alles für ihn getan. Wir haben gearbeitet, damit er es einmal besser haben soll. Zu seinem Geburtstag haben wir ihm ein Rad für 470 Mark gekauft.«
    Nach Aussage seines Lehrers war Herbert H. ein fleißiger, ruhiger Schüler, der zu keinen Klagen Anlass gegeben hat.

Mirjam Pressler
    © Alexa Gelberg Mirjam Pressler, geboren 1940 in Darmstadt, studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt am Main und verbrachte ein Jahr in
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