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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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das immer gewesen.
    Früher hat sie sich gegen die Erinnerungen gewehrt. Sie sind ihr unangenehm und peinlich gewesen, sie haben ihr wehgetan. Lieber hat sie überhaupt nicht zurückgedacht.
    Jetzt ist es anders.
    Wie ein Bündel Schnüre ist die Vergangenheit, verknotete, verwirrte Schnüre, die sie in der Hand hält. Sie kann sie aufnehmen und entwirren oder fallen lassen, ganz wie sie will. Eine Schnur heißt Ludwig, eine Theo, eine Gerda, eine Mutter, eine Vater. Viele von den Schnüren sind ihr aus der Hand gefallen, und sie weiß nicht, ob sie sich bücken soll, um sie aufzuheben.
    Eine Schnur ist durchgeschnitten. Das ist seine. In jener Bombennacht hat sie ihn das letzte Mal gesehen. Sie weiß nicht, ob er noch lebt. Ein großes Gesicht hat er gehabt, mit einer breiten Stirn. Wenn er noch nicht gestorben ist, muss er jetzt ein alter Mann sein.
    Sie lässt den Faden wieder fallen. Zusammenknoten lohnt sich nicht. Was sind schon ein paar Tage und Nächte gegen fast siebzig Jahre.
    Ludwig nimmt sie. Ludwig ist der rote Faden in ihrem Leben. Sie tastet sich an ihm entlang, fährt mit den Fingern zärtlich über sein Gesicht. Das Gesicht, das er als Mann gehabt hat. In Wirklichkeit hat sie das nie gemacht, sie hat sich das nicht mehr getraut. Sie hat höchstens die Hände auf seine Schultern gelegt, mehr nicht. Was für ein schönes Gesicht der Ludwig gehabt hat, dieselbe breite Stirn, denselben Mund.
    Lange hat der Faden keinen Knoten. Das sind die vielen Jahre ohne ihn. Ludwig bei der Bundeswehr, Ludwig als junger Mann in der Lehre, Ludwig, wie er aus der Schule kam. Nichts außer kurzen Eindrücken an Weihnachten und Geburtstag. »Groß bist du geworden, Junge, wie du gewachsen bist.«
    Er hat sein Gesicht abgewendet, ist ihr ausgewichen, verschwunden.
    Dann ein Knoten in der Schnur. Das ist jene Nacht. Er hat sich an sie geklammert, geschrien, geweint, gebettelt. Sie hat seine Hände weggeschoben. Am Tisch hat er gesessen, ganz blass, hat gesagt: »Ich hasse dich.«
    Das tut weh. Er soll essen. Gleich wird er essen. Sie hat ihm immer gern zugeschaut beim Essen, hat sich auch beim Kochen meistens danach gerichtet, was er gern gegessen hat.
    Ludwig mit zwölf. Der Junge mit dem Fußball. Das lachende Gesicht von dem Foto hat sich vor die Erinnerung gedrängt. Schwarz-weiß ist die Erinnerung, das Lachen ohne Farbe.
    Die Kommunion ist auch so ein Foto. Ein feierliches Gesicht über einer großen Kerze. Alles nur Fotos.
    Als er acht war, haben sie einen alten VW gekauft. Ludwig ist ganz wild gewesen auf das Auto. Und mit sieben hat er sich mal den Arm gebrochen.
    Dann kommt der erste Schultag. Sie hat Äpfel gekauft für die große Tüte, weil nicht genug Geld da war, um sie nur mit Schokolade und Bonbons zu füllen.
    Die Zeit, in der er im Kindergarten war, ist verwischt in ihrer Erinnerung. Sie hat so wenig davon gehabt, weil sie schwer arbeiten musste damals. Morgens ist sie putzen gegangen. Der Laden hat Geld geschluckt, ein Fass ohne Boden ist er gewesen. »Wir müssen die Regale wieder voll kriegen«, hat Theo gesagt. Sie hat wenig Zeit für die Kinder gehabt, sehr wenig.
    Für den nächsten Knoten im Ludwig-Faden hat sie kein Foto zur Unterstützung. Sie braucht es auch nicht. Dieses Bild ist in ihrem Kopf eingegraben.
    Sie saß mit den Kindern beim Abendessen. Es gab Pellkartoffeln mit Hering. Ludwig war noch so klein, dass er kaum über die Tischkante geschaut hat. Sie hat gerade die Kartoffeln geschält, Futterkartoffeln sind das gewesen. Für Ludwig hat sie die wässrigen Kartoffeln mit einer Gabel zerquetscht und Heringsoße darüber gegossen.
    Sie hat die Schritte auf der Treppe gehört, aber sie hat sie nicht erkannt. Deshalb ist sie auch erschrocken, als es klingelte.
    Dann hat sie verstanden, dass dieser magere, eingefallene Mann da mit dem geschorenen Kopf wirklich Theo war. Die Kartoffel, die sie noch in der Hand gehalten hat, ist auf den Boden gefallen und unter das Schuhschränkchen im Flur gerollt. Gerda hat sie aufgehoben und in die Küche getragen.
    Der Mann hat die Arme ausgebreitet. Dann haben sie geweint, gelacht, geweint.
    Gerda hat Theo angesehen und gesagt: »Papa.«
    Ludwig hat Theo angesehen und gesagt: »Papa.«
    Frau Kronawitter ist weiß geworden und musste sich an die Wand lehnen. »Er ist im Dezember fünfundvierzig geboren.«
    Ludwig hat immer wieder »Papa, Papa« gesagt. Sein Gesicht war offen und freundlich, wie kleine Kinder halt aussehen, wenn sie noch nichts von der Welt
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