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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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Straße, dann ist er am Berliner Platz.
    Der Optiker nimmt die Brille und das herausgefallene Glas und verschwindet im Hinterzimmer. Herbert weiß nicht, ob so ein Glas auch von allein aus der Brille fallen kann. Der Mann in dem weißen Kittel hat ihn jedenfalls erstaunt angeschaut. Nach außen hin hat er gelächelt, aber Herbert hat den versteckten Spott gesehen und sich ertappt gefühlt. Er hat seinen Kopf zur Seite gedreht und die Regale angeschaut, damit der Mann nicht sehen konnte, dass er rot geworden ist.
    »Hier, Junge, jetzt kannst du wieder richtig sehen.«
    Herbert nimmt die Brille und zieht sein Portemonnaie aus der Anoraktasche.
    »Das kostet nichts«, sagt der Optiker. »Das ist Kundendienst.« Er lacht dabei.
    Lacht er über ihn, weil er das weiß mit der Brille? Oder denkt auch er, wie komisch er aussieht? Ratte mit Brille.
    Herbert zieht die Schultern hoch. »Danke«, sagt er und geht schnell aus dem Laden.
    Er steht wieder auf dem Berliner Platz, diesmal mit Brille. Gott sei Dank, dass es noch geklappt hat. Seine Mutter hätte das nicht merken dürfen, sie hätte es nie verstehen können. Er würde auch nie zu ihr gehen können und sagen: Kauf mir eine neue Brille, eine andere.
    Sie würde es nicht verstehen, sie würde sich an den Kopf greifen. Bist du verrückt geworden? So eine schöne Brille, und fast neu. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir eine andere kaufe. Und zum Vater würde sie sagen: Was der Junge hat! Da kaufen wir ihm alles, aber er ist nie zufrieden. Eine neue Brille will er, stell dir das vor, einfach eine neue Brille!
    Herbert kennt das. Er weiß noch genau, wie das mit der Hose war. In die erste oder zweite Klasse ist er gegangen. Die Mutter hat damals noch nicht gearbeitet, deshalb weiß er genau, dass es in der ersten oder zweiten Klasse gewesen ist. Im Winter. Er hat Knickerbocker anziehen müssen, eine fürchterliche, hellgraue Hose, bis über die Knie, aus einem groben, kratzenden Stoff, und dazu dicke, selbst gestrickte Kniestrümpfe über langen Unterhosen. Kein anderer Junge hat solche Hosen angehabt.
    »Mama, bitte, nicht diese Hose.«
    »Aber warum denn nicht? Das ist eine schöne Hose. Wie ein kleiner Mann siehst du aus.«
    Die Mutter stand vor ihm, groß und stark. Da konnte er doch nicht sagen: Die lachen mich aus. Ich habe Angst. Ich will nicht ausgelacht werden.
    Immer machte sie so lang an ihm herum, bevor er in die Schule ging. Ihre Hände zupften seine Schulternähte gerade, stopften ihm das Hemd fester in die Hose.
    »Mama, kein anderer Junge hat solche Hosen an.«
    »Willst du etwa so schlampig rumlaufen wie die anderen? Das kommt nicht in Frage. Solange ich was zu sagen habe, ziehst du dich ordentlich an.«
    Sie zog ihm einen Scheitel, links, er hatte immer schon links einen Scheitel. Und seine Haare waren viel zu kurz im Nacken. Kein anderer Junge hatte so kurze Haare. Der Kamm kratzte auf der Kopfhaut. Die Haare wurden mit etwas Wasser in Form gebracht, ganz straff nach hinten. Später, wenn sie getrocknet waren, fielen sie ihm wieder ins Gesicht.
    »Wie siehst du denn aus? Mach dir die Haare aus dem Gesicht. Da kriegst du schlechte Augen, wenn dir immer die Strähnen reinhängen.« Sie steckte ihm die Haare mit einer Klemme fest. Kein anderer Junge hatte die Haare mit einer Klemme festgesteckt.
    Auf dem Schulweg, wenn er sicher war, dass sie ihn vom Badezimmerfenster aus nicht mehr sehen konnte, zog er die Klemme aus den Haaren und steckte sie in die Hosentasche. Aber die Hose konnte er nicht ausziehen. In der Schule lachten sie über ihn, wenn er diese Hose anhatte. »Schaut mal, wie der aussieht!«
    An einem Nachmittag passierte es. Er machte gerade seine Hausaufgaben, musste irgendetwas ausschneiden, und da schnitt er ein großes Loch in die Hose, oberhalb des Knies. Es war wirklich nicht Absicht gewesen, bestimmt nicht, er hatte es vorher selbst nicht gewusst, und es dauerte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, was er getan hatte. Er erschrak und fing an zu weinen. Weinend zog er die Hose aus und stopfte sie unter sein Bett, ganz weit hinten in die Ecke, wo es ganz dunkel war. Er zog eine andere an, auch eine graue, die Sonntagshose. Sie hatte lange Beine.
    Die Zeit bis zum Abendessen, bis die Mutter es merkte, war schlimm. Er saß am Tisch und konnte vor Angst und Aufregung nichts machen, keine Hausaufgaben, nichts. Zitternd wartete er, dass die Zeit verging.
    »Das Essen ist fertig«, rief die Mutter.
    Er schlich in die Küche und setzte sich
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