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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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sein.«
    »Musst du es dann nicht abgeben?«, fragt die Mutter. »Ich meine, es gehört dir ja nicht.«
    »Ich bin doch nicht blöd. Abgeben? Warum? Dafür, dass einen die Leute wie den letzten Dreck behandeln? Nein, sollen die doch auf ihre Sachen besser aufpassen. Vier Touren habe ich heute gehabt und nur eine Frau hat mir zwei Mark Trinkgeld gegeben. ›Das ist für Sie‹, hat sie gesagt, in einem Ton, als wäre es ein Hunderter. Mindestens. Nein, das Taschenmesser gehört mir. Es ist mein Trinkgeld und ich kann es meinem Jungen schenken, nicht wahr?«
    Vaters Gesicht ist Herbert zugewandt und lächelt. Herbert lächelt auch, berührt mit den Fingern den Horngriff, lächelt wieder. »Ich würde es auch nicht mehr hergeben«, sagt er. »Jetzt nicht mehr.«

6.
    Ein Vertreter kommt und Frau Kronawitter bestellt Pralinen. Deshalb sind bei mir die Sachen teurer, denkt sie, weil ich immer alles beim Vertreter bestellen muss. Weil ich nicht selbst einkaufen kann. Ich bin nicht mehr wettbewerbsfähig, so heißt das heute.
    »Drei Schachteln Edle Tropfen«, sagt sie. »Und zwei Schachteln Festliche Mischung.«
    »Zwei Schachteln?«, fragt der Vertreter. »Dann haben Sie doch gleich nichts mehr. Zwei Kunden, und Sie haben nichts mehr.«
    »Zu mir kommen nicht so viele Kunden«, sagt sie. »Das ist nur ein kleiner Laden.«
    »Wenn Sie auch nicht genug dahaben …«
    »Also vier Schachteln von jedem«, sagt sie. Sie resigniert, bestellt und weiß dabei schon, dass es viel zu viel ist, mehr, als sie eigentlich braucht. »Wissen Sie, die Großmärkte, die machen uns kaputt. Da können wir Kleinen nicht mehr mithalten.« Immer hat sie das Gefühl, dass sie sich entschuldigen muss für die geringe Menge, die sie braucht.
    »Das müsste nicht so sein.« Der Vertreter, jung, sehr jung noch, höchstens fünfundzwanzig, jung und forsch, lächelt. Es ist ein kaltes, schnelles Lächeln, das keine Zeit hat, sich auf dem glatten Gesicht auszubreiten. »Es gibt auch viele kleine Läden, die gut gehen«, sagt er. »Umsätze machen die! Umsätze!« Er schnalzt mit den Fingern.
    Frau Kronawitter spürt, wir ihr das Blut in den Kopf steigt und sie benommen macht. Immer wieder diese Nebel vor ihren Augen. Warum sind die meisten Vertreter so jung? Was kann dieser Junge, dieses halbe Kind da, verstehen? Nichts. So einem kann man doch von den eigenen Sorgen nichts erzählen oder davon, wie das war, als Theo noch gelebt hat. Theo hat bestellen können wie kein anderer! Da hat alles gestimmt, es war nie zu viel und nie zu wenig. Theo hat auch selber mit dem Auto Waren holen können, wenn es nötig gewesen ist. Sie hat nie den Führerschein gemacht. Erst hat sie keinen gebraucht und dann ist sie zu alt gewesen. Sie hat es sich nicht mehr zugetraut. Nach Theos Tod hat sie dann das Auto verkauft. Aber sie hat nicht mehr viel bekommen dafür, es ist ein altes Auto gewesen. Auch früher hat das Geschäft nicht solche Umsätze gebracht, die man mit einem Fingerschnalzen erzählen konnte.
    Sie zwingt sich, den jungen Mann durch die Nebel vor ihren Augen anzuschauen. »Vierzig Tafeln Milchschokolade«, sagt sie. »Und vierzig mit Nuss.« Sie hört selbst, wie ihre Stimme zittert. »Und zwanzig Zartbitter«, fügt sie etwas fester hinzu. »Bei mir geht Schokolade besser, wissen Sie«, behauptet sie in das erstaunte junge Gesicht hinein.
    Als er draußen ist, endlich, lässt sie sich auf ihren Stuhl fallen und stützt den Kopf auf die Theke. Die Schleier vor ihren Augen kommen wieder. Theo, ich bin eine alte, dumme Frau. Aufhören sollte ich. Gerda hat Recht.
    Die Kaminski kommt herein, die Tochter, die Alte ist ja vor drei Monaten gestorben. Frau Kronawitter hat einen halben Tag den Laden zumachen müssen wegen der Beerdigung.
    Erst einundsiebzig ist die Else gewesen, als sie gestorben ist. In den letzten Jahren ist sie immer weniger geworden, immer kleiner und schrumpliger. Man hat sich kaum mehr vorstellen können, was das mal für eine mächtige Frau gewesen ist. Satansbraten hat Theo sie genannt, das rote Weib, den Hausdrachen. Und so war das auch. Jeder im Haus hat sich vor ihr gefürchtet, vor dem bösen Mundwerk, den flinken Augen. Und dann war nichts mehr davon übrig, als sie alt geworden ist. Nichts. Die junge Kaminski ist auch nicht mehr so jung, so um die vierzig muss sie sein. Sie verlangt Pralinen, Edelkirsch. Das bedeutet, dass sie heute wieder Besuch bekommt. Das rote Auto wird wieder die halbe Nacht vor der Tür stehen.
    »Ich hatte kein
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