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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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dünnen Ledergürtel geschlagen hat. Einmal ist Herbert, immer noch heulend, im Badezimmer auf den Wannenrand geklettert, hat seine Hose heruntergezogen und seinen Hintern im Spiegel betrachtet. Er musste schnell wieder hinuntersteigen, weil ihm schwindelig geworden ist beim Anblick der aufgeplatzten Streifen.
    Herbert liegt lange wach. Er dreht sich unruhig von einer Seite auf die andere. Endlich kommen seine Eltern heim. Er hört die aufgekratzte Stimme seines Vaters und das unterdrückte Lachen der Mutter. Er kann nicht verstehen, was sie sagen, aber als er die Schlafzimmertür hinter ihnen zufallen hört, streckt er sich erleichtert aus.
    Der Vater hätte hereinkommen können zu ihm, hätte fragen können: Wo ist das Messer? Was ist damit?
    Und Herbert hätte das Messer unter dem Kopfkissen hervorziehen müssen, der Vater hätte die schartige Schneide gesehen und alles gewusst.
    Aus dem Schlafzimmer dringen Geräusche. Herbert zieht sich die Decke über den Kopf. Er hasst diese Geräusche, hasst die Gedanken, die sie in ihm wecken. Er hasst die Erinnerung.
    Einmal hat er durch das Schlüsselloch geschaut und seine Eltern beobachtet. Danach hat er es bereut, er bereut es immer noch. Dabei hatte er doch gar nichts getan, er war ja nur neugierig gewesen, sie waren die Schweine, sie hatten das gemacht, aber er bekommt die Erinnerung daran nicht mehr aus seinem Kopf.
    Endlich ist es wieder ruhig geworden im Schlafzimmer. Die Mutter geht noch einmal ins Bad. Er hört die Wasserspülung rauschen, hört, wie sie sich die Hände wäscht und dann die Schlafzimmertür hinter sich zumacht. Herbert ist aufgeregt. Er versucht an etwas anderes zu denken als an die Kratzer in der Autotür.
    Butch sticht auf das Zelt seines Gegners ein. Das Büffelleder ratscht unter seinem Messer. Das wird dir eine Lehre sein, denkt er. Glaub ja nicht, dass du dich an meinem Eigentum vergreifen kannst. Ich lasse mir nichts gefallen. Lachend und singend reitet Butch dann zurück in die Berge.

8.
    Frau Kronawitter geht langsam um die Ecke. Es ist wieder kälter geworden, jetzt am Abend. Morgen wird das Wetter auch nicht besser werden. Sie muss unbedingt Öl bestellen, es reicht nicht mehr lang, wenn der Winter so früh kommt. Wenn das Öl nur nicht so teuer wäre. Zu Weihnachten, da hat sie mehr Geld, da kaufen die Leute doch mehr Süßigkeiten. Aber bis dahin wird das Öl nicht reichen.
    Wastl läuft vor ihr auf dem Bürgersteig. Er knickt mit den Hinterbeinen ein und drückt angestrengt. Es kommt nichts, und er macht ein paar Schritte vorwärts, den Hintern immer noch fast am Boden, bleibt wieder stehen und drückt. Es sieht unanständig aus, denkt Frau Kronawitter, wenn er sich so anstrengt in dieser Haltung, mit diesem runden Rücken.
    »Los, Wastl, komm endlich.« Sie sagt es ganz leise, sie traut sich nicht, normal zu sprechen. Das ist so laut in der Dunkelheit. Sie steht dicht an der Hauswand und wartet, dass der Hund endlich fertig wird und dass sie nach Hause kann in ihr Bett. Sie ist müde nach dem langen Tag und friert.
    Gerade will sie den Hund rufen, ihn an die Leine nehmen und mit Gewalt nach Hause ziehen, als ein widerliches Kratzen sie zusammenfahren lässt, ein Gänsehaut erregendes, schabendes Metallgeräusch. Sie schaut in die Richtung, aus der es kommt. Jemand macht sich an dem roten Auto zu schaffen, das dem Kerl von dem Fräulein Elsbeth gehört. Sie wagt kaum zu atmen, obwohl sie so weit weg ist, dass der andere sie bestimmt nicht hören kann. Sie versucht zu erkennen, wer es ist, aber sie sieht nur einen Schatten, der mit dem Auto verschmilzt. Dann hört das Kratzen auf, und kurz darauf stürzt jemand ins Haus, ohne sich umzusehen.
    Sie bleibt lange stehen und wartet, bis ihre Aufregung nachgelassen hat. Erst dann geht sie mit langsamen, zögernden Schritten die menschenleere Straße hinunter bis zum Haus. Im Bett liegt sie mit offenen Augen und meint, das Kratzen wieder zu hören. Ich werde nichts sagen, denkt sie. Ich habe nichts gesehen. Ich weiß nicht, wer es war, und außerdem geht es mich nichts an.
    An die Nacht denkt sie, an die Bombennacht, ganz kurz vor Kriegsende, als sie abends allein unterwegs war. Gerda hatte sie bei Lena gelassen. Es war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hat, aber das hat sie damals noch nicht gewusst. Sie war allein auf der Straße, als der Alarm losging. Sie hat Angst gehabt, große Angst. Zu ihrer Angst vor der Dunkelheit kam noch die ganz wirkliche Angst vor den Bomben. Trotzdem hat
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