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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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Komm, wir schneiden es ab. Er hat das Messer aus der Tasche gezogen, das Klappmesser mit dem Horngriff, und ist auf Herbert zugegangen.
    »Herbert«, ruft die Mutter, »kommst du jetzt!« Er muss in die Küche gehen. Der Vater isst, die Mutter schmiert Leberwurst auf ein Brot. »Ich habe dir doch extra gesagt, dass du heute nicht trödeln sollst.«
    Herbert setzt sich und fängt an zu essen. »Na, hast du gut geschlafen?«, fragt der Vater. Herbert nickt, schaut aber nicht hoch dabei.
    »Du bist aber komisch heut«, sagt der Vater. »Kriegst du den Mund nicht auf?«
    »So ist er oft morgens«, sagt die Mutter. »Weiß der Himmel, was der Junge hat.«
    Herbert würgt das Brot hinunter und macht sich fertig. Er schaut seinen Vater nicht an, als er »Auf Wiedersehn« sagt.
    Auf dem Schulweg und dann in der Klasse ist er geduckt, schaut sich immer wieder um, denkt, es kann doch nicht sein wie immer. Aber nichts kommt, nichts passiert. Keiner sagt etwas über das Auto.
    In der Pause rennt er über den Schulhof, er sucht Paul. Er stellt sich so nahe zu der Gruppe hin, wie er, ohne aufzufallen, kann. Paul ist sehr groß, er sieht fast aus wie ein Mann. Im letzten Jahr hat er einen Automaten geknackt, den Zigarettenautomaten an der Ecke Danziger Straße und Potsdamer Straße. Er steht mit seinen Freunden am Zaun, lacht, redet. Er pfeift einem Mädchen nach, der Hartmeier Trude, der mit den roten Haaren. Aufgeputzt ist sie, geschminkt, ihre Jeans sind sehr eng. Sie lacht, weil Paul gepfiffen hat, dreht sich um und sagt etwas. Herbert hat es nicht verstanden, aber Paul macht eine unanständige Bewegung mit der Hand. Paul und seine Freunde grölen, Trude dreht sich um und geht weiter. Sie wackelt mit dem Hintern.
    Herbert steht ganz still da und beobachtet Paul. Sein Parka ist alt und dreckig und am linken Ärmel ist die Schnalle abgerissen. Sie flattert, wenn Paul den Arm hebt. Hat Paul Angst gehabt, letztes Jahr? Hat er dieses Kribbeln im Bauch gespürt, so wie Herbert jetzt, dieses Zittern, das durch den ganzen Körper geht und auf den Darmausgang drückt?
    Herbert spannt die Muskeln an. Es ist ein angenehmes Gefühl, dieses Drücken, ein heimliches Vergnügen.
    Paul ist auf der Polizei gewesen, verhört worden ist er. Aber er ist noch nicht strafmündig gewesen, haben die Leute gesagt. Man konnte ihm noch nichts tun. Aber lange haben sie von nichts anderem geredet.
    »Das wird ein schlimmes Ende mit ihm nehmen«, hat Frau Köhler gesagt. »Ihr werdet schon sehen, was aus dem wird.«
    Und die Mutter hat beim Treppenputzen mit der Frau Schwab geredet. »Gott sei Dank, unserer ist nicht so.«
    Herbert greift nach dem Messer in seiner Tasche. Rau und angenehm fühlt sich der Horngriff an. Irgendwie männlich, erwachsen. Andere haben auch Taschenmesser, aber die sind Spielzeug gegen dieses große, starke Klappmesser. Herbert wird ganz ruhig.
    Paul ist weit weg, sein Gesicht ein weißer Fleck unter anderen verschwommenen weißen Flecken. Nur das Messer ist da. Wenn die wüssten, denkt Herbert. Die würden mir das doch nie zutrauen.
    Mit hochgezogenen Schultern, die Hände tief in die Taschen vergraben, schlendert Herbert zwischen den weißen Gesichtern herum. Es klingelt, die Pause ist zu Ende. Herbert lässt sich im Gedränge die Treppe hinaufschieben und hat zum ersten Mal keine Angst vor der Berührung. Spott und Gelächter gleiten an ihm ab. Er merkt sie nicht einmal.
    Es ist ein schönes Gefühl, so ein Messer in der Hosentasche zu haben.

10.
    Das rote Auto steht morgens nicht mehr da, als Frau Kronawitter aus dem Haus tritt. Es ist wie immer, kalt, unangenehm, die Gelenke tun ihr wieder weh. Der Sommer ist schon fast vergessen.
    »Zwei Banjos«, sagt Herbert. »Zwei Banjos, bitte.«
    Er hat seine Brille auf, dieses komische goldene Gestell mit den großen Gläsern. Sie steht ihm nicht, denkt sie. Unmöglich sieht er aus mit dieser Brille. Dass seine Mutter das nicht gemerkt hat! Wie konnte sie ihm nur so eine Brille kaufen!
    Frau Kronawitter packt die Banjos in eine Sternchentüte, so wie immer. Was sollte auch anders sein? Er weiß ja nicht, dass sie weiß …
    Später kommt ein Streifenwagen der Polizei. Frau Kronawitter kann ihn durch ihr kleines Schaufenster zwar nicht sehen, aber die Müller, die Eisenbahnerswitwe aus dreiundachtzig, die immer alles sieht und alles weiß, kommt in den Laden. »Haben Sie’s schon gehört?«
    »Was?«
    »Jemand hat das rote Auto zerkratzt, heute Nacht. Die Polizei ist da und fragt alle
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