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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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Maloja, Mai 1896
    Dieses Licht. Gian blinzelte, blieb stehen und hielt schützend eine Hand vor die Augen, während die andere zum Himmel hinaufzeigte.
     »Macht einen noch halb blind, die Sonne«, murmelte er und folgte mit dem Finger den Kreisen, die ein Raubvogel weit oben im
     Mittagshimmel zog.
    »Komm weiter«, drängte sein Bruder Luca, aber als der andere die Hand zögernd sinken ließ, zeigte sie geradewegs auf einen
     reglos zusammengekrümmt daliegenden Menschen, nicht mehr als einen Steinwurf von ihrem Trampelpfad entfernt.
    Die junge Frau hatte die Augen geschlossen. Unter ihrem langen schwarzen Wollrock sahen die nackten Füße hervor. Der Knöchel
     des einen Fußes war dick geschwollen, die Schuhe lagen daneben.
    »Wo kommt die denn her?«, fragte Luca überrascht.
    Gian sah wieder in den wolkenlosen Himmel hinauf. »Sie ist schön«, antwortete er, »von hier ist sie nicht.«
    Er betrachtete das von Schlaf und Sonne gerötete Gesicht des Mädchens, wandte dann den Kopf ab, als gehöre es sich nicht,
     einen schlafenden Menschen zu mustern, aber Luca starrte noch immer unverwandt auf sie nieder. In ihrem dichten Haar hatten
     sich einzelne Grashalme verfangen, ein helles, durchscheinendes Grün, leuchtend eingewoben in rötliches Kraushaar. Doch viel
     neues Gras war noch nicht da, schon gar nicht auf dieser Höhe. Selbst an diesem Mittag Ende Mai war die Luft noch kühl.
    »Wir wecken sie«, beschloss Luca, und Gian sah, wie die geschlossenen Lider der jungen Frau zuckten. Sie war also wach, obwohl
     sie die Augen nicht öffnete. Luca zupfte unsanft an dem Schultertuch, in das sich die Fremde eingewickelt hatte. Da schlug
     sie vorsichtig die Augen auf, blinzelte ins Licht, wie vorher Gian es getan hatte, und schloss die Lider wieder.
    »Sie ist erschöpft«, sagte Gian, »und ihr Fuß sieht nicht gut aus.«
    »Was du nicht alles weißt«, gab Luca zurück und wandte sich dann mit lauter Stimme an die junge Frau: »Bist du krank? Wo willst
     du hin?«
    Sie antwortete nicht.
    »Vielleicht weißt du ja, wo sie hinwill«, sagte Luca zu seinem Bruder, »wenn du so viel über sie weißt.«
    Gian kauerte neben dem Mädchen nieder und berührte mit kundiger Hand den geschwollenen Fuß. Es kam öfter vor, dass sich jemand
     aus dem Dorf oder eins der Tiere den Knöchel verstauchte. Die junge Frau zuckte unter seiner Berührung zusammen.
    »Sie hat Schmerzen«, stellte er fest, »sie kann nicht laufen. Aber wir bringen sie schon irgendwie den Berg hinunter nach
     Maloja.«
    »Meinst du«, sagte Luca.
    »Ja«, antwortete sein Bruder.
    »Eine Merkwürdige ist das«, stellte Luca fest und stieß mit dem Fuß einen Stein zur Seite.
    Gian hingegen war glücklich. Endlich geschah etwas, etwas ganz Unerwartetes. Er hatte schon von Meteoriten gehört, die plötzlich
     aus dem All auf die Erde fielen und tiefe Krater schlugen. So ähnlich war es mit diesem Mädchen, dessen Erscheinen das Gewebe
     der ewig gleichen Tage zerriss.
    Luca und Gian kamen von Grevasalvas, wo die Bauern von Soglio ihr Vieh sömmerten. Sie hatten am Morgen begonnen,die Hütte instand zu setzen und einen Zaun für die Nachtweide zu errichten, weil sie die Kühe heraufbringen wollten, sobald
     die Wärme anhielt. Luca zog Gian ein paar Schritte zur Seite. »Und jetzt?«, fragte er ungeduldig. »Was machen wir mit ihr?
     Sollen wir sie einfach über die Schulter nehmen?«
    »Sie ist kein Schaf«, sagte Gian.
    Die junge Frau hatte sich inzwischen aufgerichtet und sah ihnen entgegen. Sie lehnte mit dem Rücken gegen einen Felsbrocken
     und hielt ihre Schuhe in der Hand.
    Unter dem groben Wolltuch, das sie noch immer fest um sich geschlungen hatte, sah eine weiße Bluse hervor. Die obersten Knöpfe
     standen offen, sodass man ihre Halsgrube sah. Luca schob den schwarzen Hut zurück und kratzte sich am Kopf. Das Mädchen trug
     eine Kette mit einem goldenen Medaillon, das in der Sonne aufblinkte. In der Mitte war ein kleiner Edelstein eingelassen,
     der glühte wie ein roter Blutstropfen, und das verwirrte Luca. Wer so ärmlich gekleidet war, besaß keinen Schmuck, höchstens
     ein kleines Kreuz. Das hier aber war verdächtig und ging nicht mit rechten Dingen zu. Er stieß Gian in die Seite, aber der
     lächelte nur blöde.
    Luca steckte die Schuhe der Fremden in seinen Rucksack, dann zogen sie die junge Frau, die vor Schmerz die Mundwinkel verzog,
     hoch und nahmen sie in ihre Mitte.
    »Leg deine Arme um unseren Hals«, forderte Gian sie sanft auf,
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