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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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Begebenheiten aus ihrer Kindheit fallen ihr ein. Schön ist das. Sie hat eine schöne Kindheit gehabt. Vielleicht hat sie aber auch nur das Schöne in Erinnerung behalten und das andere vergessen.
    Sie wärmt den Reis auf, den Rest von gestern. Als die Fleischpflanzel fertig sind, sechs Stück, aber nur ganz kleine, vier für den Hund, zwei für sie selbst, stellt sie Wastl seine Schüssel hin, setzt sich an den Tisch und fängt an zu essen. Sie hat nie richtig Hunger. In ihrem Alter braucht man nicht mehr so viel. Es schmeckt einem auch nicht, wenn man allein isst.
    Mir hat es immer nur geschmeckt, wenn ich für andere gekocht habe, denkt sie. Es lohnt sich auch nicht, für einen allein zu kochen. Das macht einfach zu viel Arbeit. Wenn Wastl nicht wäre, würde ich wahrscheinlich nur ein Stück Brot essen. Deshalb ist es vielleicht doch gut, dass es den Wastl gibt. Eine warme Mahlzeit am Tag braucht der Mensch.
    Bevor Frau Kronawitter sich zum Mittagsschläfchen hinlegt, spült sie noch das Geschirr. Sie mag nicht, wenn etwas herumsteht. Es sind ja auch nur ein Teller, eine Gabel, die Pfanne und der Topf, in dem sie den Reis aufgewärmt hat. Eine Person macht kaum Arbeit.
    Wie oft hat Gerda geweint und geschrien: »Warum soll immer ich das Geschirr spülen? Der Ludwig kann doch auch mal! Warum immer ich? Nur ich?«
    »Der Ludwig ist ein Junge«, hat sie geantwortet.
    Sie ist froh, dass sie den Ludwig so verwöhnt hat, solange sie ihn hatte. Jetzt ist sie froh darüber. Sie muss sich nichts vorwerfen. Was sie ihm geben konnte, hat er gehabt.

5.
    Vor der Wohnungstür bleibt Herbert stehen und setzt die Brille auf.
    »Ich bin auch gerade gekommen«, ruft seine Mutter aus der Küche. »Das Essen ist bald fertig. Bringst du schnell noch den Abfalleimer runter?«
    Muss ich ja wohl, denkt Herbert. Wenn ich mich trauen würde, Nein zu sagen, was wäre dann? Aber ich trau mich ja nicht.
    Er legt seine Schultasche in sein Zimmer, das ganz klein ist, eigentlich nur eine Kammer, und holt den Eimer aus der Küche. Seine Mutter steht in einer geblümten Plastikschürze, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, am Herd und kocht. Es riecht nach Spinat. Herbert spürt ein flaues Gefühl im Magen, ein leichtes Würgen. Sie macht nur Spinat, weil sie weiß, dass ich es nicht mag, dieses grüne, breiige Zeug. Ekelhaft sieht es aus, schmeckt auch so. Angedautes Gras aus Kuhmägen müsste so aussehen, grüne Fetzchen in wässrigem Saft. Wie ausgekotzt.
    Er geht langsam die Treppe hinunter. Die Holzstufen knarren. Vierundfünfzig Stufen sind es. Die Mülltonnen stehen hinter dem Haus im Hinterhof. Es ist kein richtiger Hof zum Spielen. Dazu ist er zu klein. Die fünf Mülltonnen stehen nebeneinander an der Mauer zum Hof des Nachbarhauses und der Abfall quillt unter den Deckeln hervor.
    »Wir brauchen zwei Tonnen mehr«, hat sein Vater zum Hausverwalter gesagt. »Mindestens noch zwei Tonnen. Fünf sind zu wenig für acht Parteien. Viel zu wenig. Unhygienisch ist das.«
    Der Hausverwalter hat mit den Schultern gezuckt. »Ich werde es dem Besitzer mitteilen«, hat er gesagt. »Aber ich kann Ihnen keine großen Hoffnungen machen, die Unkosten steigen laufend. Wenn Sie wüssten, was allein die Müllabfuhr für so ein Haus kostet. Und die Mieten sind seit drei Jahren nicht erhöht worden. Nein, ich kann Ihnen da keine großen Hoffnungen machen.«
    Herbert stellt den Abfalleimer ab und nimmt angewidert den Deckel von einer Tonne. Bratheringsreste faulen zwischen halb verschimmelten Tomaten und zusammengeknülltem Einwickelpapier. Immer sind die Mülltonnen voll. Er hebt den Eimer hoch und stampft ihn fest hinein in den Dreck, macht so noch ein bisschen Platz.
    Es stinkt. Im Sommer ist es noch viel schlimmer mit dem Gestank. Im Sommer sitzen Schmeißfliegen auf dem stinkenden Abfall, grün schillernde Schmeißfliegen umschwirren einen, wenn man den Deckel von einer Mülltonne hebt. Die Frau Köhler aus Nummer fünfundachtzig hat Ratten bei den Mülltonnen gesehen. Aber niemand will darüber reden. »Wir müssen das Maul halten«, hat Frau Schwab aus dem ersten Stock gesagt. »Wenn wir uns beschweren, werden diese Häuser hier abgerissen oder saniert. Und wir sitzen auf der Straße, denn die Mieten können wir dann nicht mehr bezahlen.« Herbert hat noch keine Ratte gesehen, aber seit Frau Köhler davon erzählt hat, nähert er sich den Mülltonnen nur sehr vorsichtig.
    Warum kocht sie Spinat, wenn sie genau weiß, dass ich ihn nicht
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