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Kratzer im Lack

Kratzer im Lack

Titel: Kratzer im Lack
Autoren: Mirjam Pressler
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Blick. Verächtlich ist er, ja, von oben herab und verächtlich. Sie glaubt mir nicht. Sie denkt, ich will ihr das Heft nicht geben. Unkameradschaftlich wird sie das nennen, oder unsozial. Dabei ist mir wirklich gerade eingefallen, dass ich die eine Aufgabe noch mal anschauen sollte. »Du musst nicht glauben, dass ich dir das Heft nicht geben will«, fängt er an.
    Doch Martina hat sich schon umgedreht. »Klaus, kann ich von dir Mathe abschreiben?«
    Klaus macht seine Schultasche auf und hält ihr das Heft hin, das mit dem hellblauen Plastikumschlag. Eselsohren hat das Heft. Herbert schaut schnell weg. Ausgerechnet den Klaus hat sie fragen müssen. Diesen Klaus, der jeden einwickeln kann mit seiner Freundlichkeit. Lässig und unbekümmert bewegt er sich, obwohl er ein Muttermal hat, ein markstückgroßes, schrumpeliges Stück Haut, dunkelbraun, halb auf dem Nasenflügel und halb oberhalb der Lippe, das beim Reden zuckt. Schön ist das wirklich nicht. Der Klaus hätte eigentlich ganz ruhig und still sein müssen.
    Herbert setzt sich an seinen Platz, direkt am Fenster in der ersten Reihe. Nur weil er kurzsichtig ist, hat er diesen Platz bekommen, nur deshalb. Dieter sitzt neben ihm, auch kurzsichtig, und eigentlich hat der Stefan neben dem Dieter sitzen wollen. Dieter hat lange blonde Haare und ist der beste Fußballspieler der Klasse. Bei ihm hat noch niemand über die Brille gelacht.
    Herbert öffnet die Schultasche und holt seine Brille heraus, dieses goldene Metallgestell mit den runden Gläsern. Er weiß genau, inzwischen weiß er es genau, dass ihm die Brille nicht steht, dass er lächerlich aussieht damit, dass sie sein spitzes Gesicht noch spitzer macht. Dabei hat sie ihm so gut gefallen, damals, als er mit seiner Mutter beim Optiker gewesen ist und das Gestell ausgesucht hat.
    »Ja, die da«, hat die Mutter gesagt, »die ist richtig. Sie steht dir gut.«
    Und er hat ihr geglaubt. Er hat ihr beim Optiker geglaubt und dann noch zu Hause, an dem Tag, als er die fertige Brille abgeholt hat.
    Am nächsten Morgen ist sein Gesicht immer kleiner geworden unter den neugierigen Blicken und dem Gelächter der anderen.
    »Wie eine Ratte mit Brille sieht er aus. Habt ihr schon mal eine Ratte mit Brille gesehen? Du müsstest dich glatt beim Film vorstellen damit, als Komiker.«
    Und wie sie alle gelacht haben. Ratte mit Brille. Bebrillte Ratte. Herbert ballt die Fäuste unter dem Tisch, als er daran denkt. Wenn er nur stark wäre.
    »Keine Energie hat der Junge«, hat der Vater gesagt. »Keinen Charakter, das ist es. Ein Waschlappen ist er, mein Sohn, ein Schwächling.«
    Boxen hatte er ihm beibringen wollen.
    »Los«, hat der Vater gesagt. »Los, hau zurück.«
    »Schau ihn dir doch an«, hat er zur Mutter gesagt und hat sie, die sich schützend dazwischenstellen wollte, beiseite geschoben.
    »Mit der Linken musst du decken, schau, so, und mit der Rechten zuschlagen.«
    Beim ersten Treffer ist Herbert hingefallen und hat sich an der Tischkante den Kopf angeschlagen. Er hat sich an die schmerzende Stelle gefasst und entsetzt gesehen, dass seine Finger klebrig und blutverschmiert waren.
    »Schwächling«, hat der Vater gesagt. »Waschlappen.«
    Er hat die Zeitung genommen und nicht mehr hochgeschaut, auch nicht bei Herberts lautem Stöhnen, als die Mutter ihm die Wunde mit Jod ausgewaschen hat.
    Schwächling.
    Caroline und Ines lachen in der Reihe hinter Herbert. Er schaut sich nicht um.
    Biologie. Vergleichende Biologie. Warum entwickelten bestimmte Lebewesen bestimmte Körperformen oder Eigenschaften? Die Hasen, zum Beispiel, haben besonders gute Ohren, damit sie ihre Feinde besser hören, und besonders kräftige Beine, damit sie leichter fliehen können.
    Großmutter, warum hast du so große Augen?
    Damit ich dich besser sehen kann.
    Großmutter, warum hast du so große Ohren?
    Damit ich dich besser hören kann.
    Großmutter, warum hast du so einen großen Mund?
    Damit ich dich besser fressen kann.
    Rotkäppchen ist selber schuld. Rotkäppchen hat nicht aufgepasst. Das ist die Wahrheit. Aufpassen muss man, um sich schauen, vorsichtig sein, wachsam sein. Wie die Hasen. Immer. Damit man fliehen kann. Es reicht nicht, große Ohren zu haben, man muss auch hören lernen. Und auch das Hören reicht nicht, man muss lernen, das Gehörte zu verstehen, es einzuordnen in »gefährlich« und »ungefährlich«. Und das ist gar nicht immer leicht.
    Herr Baumeister macht vor, wie ein Hase Haken schlägt, und alle lachen. Sie lachen,
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