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Kornmond und Dattelwein

Titel: Kornmond und Dattelwein
Autoren: Mary Mackey
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Augen und auf die Lippen. Sie hatte unerträglichen Durst, trank aber keinen Tropfen von ihrem Blut. Aller Lebenssaft wurde für Inanna benötigt.
    »Zeig mir, was sie vor dem Tod bewahrt«, flüsterte sie. Eine rote Wolke erschien in ihrem Bewußtsein, so als würde die Sonne doch noch ihre Blindheit durchstoßen. Die Wolke wurde klarer, und Rheti erkannte darin Seb, der Inanna in den Armen hielt. Die Macht seiner Liebe umgab die junge Königin wie ein fester Wall. Rheti stieß einen Wutschrei aus. Mit welchem Recht drängte sich dieser Seb zwischen sie und ihr Opfer? Man hatte sie hintergangen! Wartet nur, ihr junges Volk, noch ist die Schlacht nicht vorüber! Sie mußte nur noch etwas warten. Am besten suchte sie sich ein schattiges Plätzchen und blieb dort sitzen, bis Seb müde wurde und einschlief. Dann würde sie allem das Ende bereiten, das nun schon seit einigen Stunden überfällig war.
    Die Sonne stieg höher und überschwemmte die Wüste mit Licht.
    Als die Dünen sich von Dunkelviolett in Braun verfärbten, funkelte überall der Flintstein in den Felsen. Hitze tanzte in flüssigen Schwaden, und der Horizont zitterte. Rheti konnte die Sonne nicht sehen, aber sie spürte, wie sich ihre Haut unter den Strahlen zusammenzog. Ihr Atem ging keuchend. Sie wurde Stück für Stück gekocht. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen in ihren Gedanken. Sie sah die Beerdigungsfeuer am Flußufer, verfolgte wie die Leichen in den Flammen zuckten, zerplatzten und zerfielen. Bald würde sie etwas Schatten finden.
    Die Sonne stieg unermüdlich den Himmel hoch und entzog dem Wüstenboden die letzten Reste von Flüssigkeit. Rheti kroch weiter und weiter, mitten hinein ins Herz des glühenden Infernos.
     

X
    Jemand hob Inanna hoch. Sie öffnete die Augen und erkannte Seb. »Lebe ich noch?«
    »Ja, Geliebte.« Die Liebkosung stand in offenem Widerspruch zu Sebs besorgter Miene, aber seine Augen waren so voller Freude, daß das alles wieder wettmachte. Sonnenlicht flutete in den königlichen Horst, verzierte die Blätter und schuf Regenbögen in den Wassertropfen, die über dem kleinen Wasserfall flogen. Der Himmel war ein makelloses blaues Tuch. Keine einzige Wolke zeigte sich auf ihm. Inanna fühlte sich schwach, aber auch sonderbar rein, so als sei alles Schlechte und Böse aus ihr hinausgespült worden.
    »Bald bist du wieder ganz gesund«, erklärte Seb. Er trug sie mit einer solchen Leichtigkeit, als sei sie ohne Gewicht. Sein Körper war angenehm warm, und seine starken Arme, mit denen er sie hielt, gaben ihr Sicherheit und Geborgenheit. Als sie ihn ansah, erkannte sie, daß sie alles an ihm liebte: die hohen Wangenknochen, den Geruch seiner Haare, seine Hände, seine Augen und sogar seine Stille. Die Liebe zu ihm unterschied sich von der zu Enkimdu, aber sie war mindestens ebenso stark. Verwundert fragte sie sich, warum sie so lange dazu gebraucht hatte, das zu erkennen. Was für eine Närrin war sie doch die ganze Zeit über gewesen! Den Menschen standen so wenig Jahre zur Verfügung. Jeder noch so kurze Augenblick war eine Gnade.
    Seb trug sie behende die Stufen hinunter. Im Sonnenlicht wirkten die Wände des Treppenhauses wie Schneemauern. Durch ein Fenster sah sie ein Haus, das in Flammen aufging. Orangefarbene Feuerzungen leckten über das Dach. Eine Dattelpalme explodierte und war dann wie eine Fackel mit einem Funkenwipfel.
    »Was ist denn draußen los? Wo gehen wir hin?« wollte Inanna wissen. Geräusche drangen von den Straßen hoch. Schreie und Waffengeklirre.
    »Wir gehen in die Lagerräume unter dem Palast«, sagte Seb.
    »Warum?«
    Er küßte sie. »Weil ich dich dort verstecken will. Die Nomaden stehen zum Angriff auf die Stadt bereit.«
    Die Stadtmauern hielten bis Mittag. Am Haupttor kämpften die letzten Gefährtinnen der Königin. Die Sterbenden reichten den Lebenden ihre Speere, bevor sie zu Boden sanken. Die weißen Wälle der Stadt waren mit Blut und Ruß beschmiert. Rasch breitete sich das Feuer aus, raste durch die engen Straßen und Gassen, sprang von Dach zu Dach, verwandelte das Wasser in der Straßenkanalisation in Dampf, trocknete die Springbrunnen aus und verbrannte Mauerwerk, Statuen und Menschen. Eine schwarze Rauchsäule stand höher als der Palast über der Stadt, und in den umliegenden Dörfern hielten die Bauern in ihrer Arbeit inne und starrten erschrocken zum Himmel, auf dem sich eine dicke, schwarze Wolke breitmachte.
    Inanna sah nichts davon. Gegen ihren Protest trug Seb sie in
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